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Kontrollgang am gelben Fluss

Der Wismut-Stolln ist der Stöpsel an Freitals unterirdischer Badewanne. Zwei Bergmänner passen auf ihn auf und müssen dabei weit laufen.

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© K.-L. Oberthür

Von Jörg Stock

Freital. Es wird ein netter Spaziergang werden, sagen die Bergleute. So an die sieben Kilometer. Sie freuen sich auf die Abwechslung. Selbst ein Wettersteiger wie Thomas Vetter, Spezialist im Belüften von Bergwerken, hockt fast nur noch am Schreibtisch. Auf den wird heute die Sonne prasseln. Da ist er lieber unter Tage. Sieben Kilometer – also besser noch mal in die Büsche? Klo gibt’s ja unten nicht, oder? „Nee“, lacht der Steiger. „Aber jede Menge Wasser!“

© Grafik: SZ

Der Kontrollgang

Durch das Mundloch im Potschappler Osterberg steigen Lay (l.) und Vetter in den Stollen ein.
Durch das Mundloch im Potschappler Osterberg steigen Lay (l.) und Vetter in den Stollen ein.
Das Grubenwasser, zu dessen Ableitung der Stollen dient, ist durch Eisenocker gelb gefärbt.
Das Grubenwasser, zu dessen Ableitung der Stollen dient, ist durch Eisenocker gelb gefärbt.
Reporter Jörg Stock mit abgelöstem Spritzbeton.
Reporter Jörg Stock mit abgelöstem Spritzbeton.
Luftloch nach Burgk.
Luftloch nach Burgk.
Der Plüschteufel beim Durchschlag im Elbstolln steht für den Spitznamen eines früheren Steigers.
Der Plüschteufel beim Durchschlag im Elbstolln steht für den Spitznamen eines früheren Steigers.

Der Wismut-Stolln ist das letzte Kapitel Bergbauhistorie im Döhlener Becken. Jahrhundertelang gruben Kumpel hier nach Kohle und Erz. Zuletzt war es die sowjetisch-deutsche Aktiengesellschaft Wismut, die Uran für Kernwaffen suchte. Mit der Zeitenwende verschwanden die Uransucher. Zurück blieben die Gruben und das Wasser, eine unterirdische Badewanne, die überlaufen würde, gäbe es nicht den Wismut-Stolln. Er ist der Stöpsel, der, geöffnet 2014 von der Wismut GmbH, dafür sorgt, dass Freital keine nassen Füße kriegt.

Bevor das Mundloch im Osterberg von Freital-Potschappel uns schluckt, erklärt Thomas Vetter, wie der Selbstretter funktioniert. Das Gerät von der Größe einer Damenhandtasche wandelt gebrauchte Atemluft in frische um, eine Stunde lang. Das reicht, um notfalls aus dem Stollen zu flüchten – etwa, wenn bei einem Brand die Luft knapp wird. Doch keine Sorge: „Da ist nichts Brennbares mehr drin.“ Eigentlich ist überhaupt nichts mehr drin im Wismut-Stolln, nicht mal eine Glühbirne. Trotzdem müssen Thomas Vetter und Vermessungsingenieur Thomas Lay alle drei Monate zur „allgemeinen Zustandskontrolle“ hinunter und jeden Winkel durchwandern.

Auf der Zugangsrampe, bis zu 19 Prozent Gefälle, geht es rasch abwärts. Man sieht den Grund für die Fürsorge der Bergleute: Um uns her wölbt sich Beton, an den Felsen geworfen, um ihn stabil zu machen. Zwar ist der Stollen für die Ewigkeit gedacht. Doch das Drumherum, durchsetzt mit Vulkanasche und schmierigem Ton, bricht nach. Bis zum Bauende 2015 wurden rund 7 000 Tonnen Beton verspritzt. Inzwischen sind etliche Tonnen hinzugekommen. Die letzten neun Monate hat eine Bergbaufirma aus dem Erzgebirge Rampe und Westteil des Stollens ausgiebig nachbetoniert. Es war die größte Baumaßnahme seit dem Ende der Auffahrung.

Die Strahlen der Helmlampen tasten über die Stollendecke. Vor allem lose Teile der Betonschale sind es, die Vetter und Lay suchen. Bisher sieht alles gut und auch trocken aus. Doch wir kommen tiefer. Wände und Sohle werden nass. Nässe fördert die Erosion. Von der Decke hängen Schläuche, aus denen Rinnsale tröpfeln. Sie wirken wie Drainagen, erklärt Thomas Vetter. Im Gebirge soll sich kein Druck aufbauen.

Am Rampenfuß, 60 Meter tief, treten wir in den eigentlichen Stollen ein. Nach links geht es 964 Meter Richtung Burgk, bis hinter den alten Real-Markt, nach rechts zwei Kilometer bis Zauckerode. Links zuerst, sagt Thomas Vetter. Zwei „Steigerfahrräder“, die hier parken, lässt er ungerührt stehen. Wer läuft, sieht mehr.

Der Steiger schreitet zügig aus. Laufen ist er gewöhnt. Seit Anfang der 1980er war der Heidenauer bei der Wismut in Königstein, ein Grubenfeld von 25 Quadratkilometern. Fußmärsche waren Alltag beim Pendeln von Brigade zu Brigade. Der gelbe Fluss läuft jetzt neben uns, aber in die Gegenrichtung. Es ist das Wasser, das aus den Gruben im Revier Gittersee abfließt, durch den Wismut-Stolln und den Tiefen Elb-stolln bis runter in die Elbe. Die gelbe Farbe kommt vom Eisenocker. Bis das Wasser die Elbe erreicht, wird es sich geklärt haben.

Es geht vorwärts, immer auf der Betonwange zwischen dem Fluss und den Schienen der Grubenbahn lang. Der Streifen ist zwar kaum eine Fußlänge breit aber wenigstens eben. Die Atmosphäre ist bekömmlich. 20,9 Prozent Sauerstoff, meldet Thomas Vetters Spürgerät, genau wie oben. Keine Spur von Schwefelwasserstoff, Kohlenmonoxid oder Methan. Woher auch. Wir haben Zwangslüftung. Sieben bis acht Kubikmeter Luft schaufelt das Gebläse pro Sekunde in den Stolln. Gibt es hier Leben außer uns? Frösche und Fledermäuse mitunter, sagen die Bergleute. Einmal, im Elb-stolln, haben sie einen Fuchs getroffen.

Pitschpatsch – plötzlich ist der Weg geflutet. Das ist neu und nicht gerade gut fürs Gleis. „Müssen wir beobachten“, sagt Vetter. Zweihundert Meter weiter klafft ein Riss seitlich im Beton. Hohl klingt es, als der Steiger mit der Schuhspitze dagegen klopft. Klarer Fall von Ablösung. Aber nur oberflächlich – kommt ins Kontrollbuch. Dann Risse an der Decke und ein kleiner Wasserfall. Hier hat der eiserne Anker eine Wasserader angeschnitten. Das Wasser drückt den Beton nach unten. Vielleicht wird man hier bald schon lose Teile herunterreißen müssen, damit sie keinen verletzen, sagt Vetter. „So ein Brocken aus drei Metern Höhe – das tut weh.“

Rauschen. Die Quelle des gelben Flusses ist erreicht, vier dicke Röhren, die Wasser von jenseits der Stollenwand in ein Becken speien. 68 Kubikmeter je Stunde sind es aktuell laut Display. Daneben zieht die Grubenluft durch ein Bohrloch 127 Meter nach oben. Man sieht die Sonne über Burgk. Thomas Vetter telefoniert nach Königstein: „Gibt’s was? Alles gut. Bis später.“

Jetzt den ganzen Weg zurück und in die westliche Stollenseite. Die ist fast doppelt so lang wie die östliche. Immerhin gibt es manchmal Fels ohne Beton, auch Hinweise in Sprühfarbe auf das, was über uns ist, die Weißeritz, die Dresdner Straße, die Bahntrasse. In der Decke steckt ein abgebrochener Bohrer, den selbst die Sprengung nicht hat befreien können. Er steckt da wie ein Denkmal für die harte Arbeit der Wismuter in dieser Röhre. Vom einstigen Nimbus der Wismut ist heute nicht mehr viel übrig, finden die zwei Bergleute. „Viele wissen ja gar nicht mehr, was die Wismut ist“, sagt Thomas Lay. Er zuckt die Schultern. „Die Zeiten ändern sich eben.“

Der Durchschlag zum Elbstolln! Endlich am Ziel. Thomas Vetters Fazit: „Keine Beanstandungen.“ Der gelbe Fluss biegt ab. 5 760 Meter muss er noch laufen. Wir nur 2 300, die aber im Steigertempo, daran lässt Thomas Vetter beim Blick auf die Uhr keinen Zweifel: „Jetzt ziehen wir durch!“