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Leipzig schaltet jetzt für Görlitz

Christoph Suchomski streicht mit der Hand über glänzende Knöpfe. In einer langen Reihe sind die bunten Dinger am grünen Blechschaltpult angebracht. Bahnweichen werden von hier aus gestellt, Befehle an Signale gegeben, Strecken freigeschaltet.

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Von Matthias Klaus

Christoph Suchomski streicht mit der Hand über glänzende Knöpfe. In einer langen Reihe sind die bunten Dinger am grünen Blechschaltpult angebracht. Bahnweichen werden von hier aus gestellt, Befehle an Signale gegeben, Strecken freigeschaltet. "Elektromechanische Sicherungstechnik, Bauform 1907/1912" nennt sich das Ganze korrekt. Christoph Suchomski stützt sich mit dem Ellenbogen auf's historische Pult und lächelt wehmütig. "Passieren tut aber eh' nichts mehr, wenn ich an den Knöpfen drehe", sagt er. "Ist bloß zur Sicherheit, dass ich hier bin." Bis zum Mittag hat Christoph Suchomski heute noch Dienst. Dann geht an seinem Arbeitsplatz das Licht aus - für immer. Christoph Suchomski ist der letzte Fahrdienstleiter im alten Stellwerk B 5 auf dem Görlitzer Bahnhof.
Ein paar hundert Meter weiter steht die Ablösung: ein elektronisches Stellwerk (ESTW), Siemens-Spitzentechnologie. Seit Sonntagmorgen ist es in Betrieb. Grund für den Neubau: Das Eisenbahn-Bundesamt erteilte aus Sicherheitsgründen nur eine befristete Betriebserlaubnis für die alten Görlitzer Anlagen. 1995 begannen deshalb die Planungen bei der Bahn, 1998 war Baubeginn für das Großprojekt. Jetzt ist der wichtige erste Abschnitt fertig. Das Besondere am neuen elektronischen Stellwerk: Der zuständige Fahrdienstleiter sitzt nicht mehr in Görlitz, sondern in Leipzig. "Zug Nummer 452 der PKP aus Polen war um 5.15 Uhr der erste, der mit der neuen Technik gesteuert wurde", sagt Uwe Krüger. Er ist der Leiter Durchführung der Deutschen Bahn-Netz, verantwortlich für Ostsachsen. Sechs große Bildschirme flimmern im Modul 1, dem schlichten Haus des ESTW. Sie zeigen das Görlitzer Gleis-System, wunschgemäß in der Übersicht oder im Detail. "Das ist unser Not-Bedienplatz. Er kommt eigentlich nur zum Einsatz, wenn die Datenübertragung von und nach Leipzig ausfällt", erläutert Uwe Krüger. Heute läuft das System sicherheitshalber mit. Stunden später wird es abgeschaltet.
Das Görlitzer ESTW ist sachsenweit das erste, das die Kollegen unmittelbar nach Inbetriebnahme direkt von Leipzig aus bedienen. "Im zweiten Bauabschnitt werden die Bahnhöfe Reichenbach, Hagenwerder und Charlottenhof zugeschaltet", erläutert Uwe Krüger. Mitte bis Ende 2001 soll das passieren. Später kommt Löbau hinzu. Und es gibt Planungen, die gesamte Strecke Görlitz-Dresden in das System einzubinden. "Aber das ist noch Zukunftsmusik", sagt der Bahn-Netz Mitarbeiter. Eine Ausweitung Richtung Polen ist dagegen nicht vorgesehen. "Grenzüberschreitende Zusammenarbeit gibt es dazu auch in anderen Regionen Deutschlands nicht. Die Technik bei den Nachbarn ist beispielsweise eine ganz andere", begründet Durchführungs-Leiter Uwe Krüger.
Klaus Scholz' Reich beginnt hinter einer Gittertür. Zutritt ist nur speziell geschultem Personal erlaubt, Handys verboten. Denn hier schlägt das elektronische Herz des Stellwerks: Meterhohe Computerschränke reihen sich aneinander. Ein monotones Summen liegt in der klimatisierten Luft. "Hier stehen zum Beispiel Rechner für die Achs-Zählung der Züge, für den Datenaustausch mit Leipzig, für die Weichen", erklärt der Meister der Leitung Sicherungstechnik. Die Computer arbeiten mehrfach abgesichert, Daten werden per Lichtwellenleiterkabel transportiert. Fast archaisch wirken da mehrere neue Relais-Schaltschränke. "Sie dienen der Anpassung des elektronischen an die älteren Stellwerke wie Reichenbach und Hagenwerder", sagt Klaus Scholz. Die Technologie wurde von Siemens erstmals und extra für Görlitz entwickelt.
Nur in der Übergangsphase bis Anfang Juli ist der Sicherungsraum ständig besetzt. Dann gehen auch hier die Lichter aus, die Computer arbeiten ohne Dauer-Aufsicht - bis auf Routinekontrollen und -arbeiten. Und was wird inzwischen aus dem "überflüssigen" Personal? "Es gibt Umsetzungen, etwa von Görlitz nach Leipzig, in die alten Bundesländer. Ältere Kollegen gehen in den Ruhestand", sagt Uwe Krüger.
Auch Fahrdienstleiter Christoph Suchomski bekam einen Job im Westen der Republik angeboten. Aber der gebürtige Görlitzer winkt ab: "Soweit weg will ich nicht. Jetzt werde ich in Altenberg bei der Bahn arbeiten, dorthin umziehen. Wissen Sie, ich hänge nun mal an dieser Region. . ." Versonnen schaut er aus dem Fenster des alten Befehlsstellwerkes, hoch über den Gleisen. Vielleicht sein letzter Blick von hier oben auf den Görlitzer Bahnhof.