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Leipzig verzichtet auf Leipziger Straßenbahnen

Die Stadt hat, was kaum eine hat: eine eigene Straßenbahn-Manufaktur. Den kommunalen Großauftrag bekommt sie dennoch nicht.

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© Sebastian Willnow

Von Sven Heitkamp

Diese Straßenbahn fährt erstmal auf dem Laster mit. Auf dem weitläufigen Hof der Firma HeiterBlick in Leipzig-Plagwitz wurde die schlanke, grün-schwarz-silberne Tram soeben auf einen Spezial-Tieflader manövriert. Nun tritt sie ihre erste Dienstreise nach Hannover an. In Niedersachsens Landeshauptstadt wird die nagelneue Hochflurstadtbahn aus Leipzig künftig auf Linie 7 im Nahverkehr unterwegs sein. Sie gehört zu einem Großauftrag für HeiterBlick: Mindestens 100 Fahrzeuge fertigt die kleine Manufaktur als Partner eines Konsortiums vom Rohbau bis zum Innenausbau. Nach anfänglichem Kummer mit Schweißnähten eines Subunternehmens läuft jetzt die Auslieferung Tram für Tram, verbunden mit der Option auf bis zu 50 weitere Wagen.

Samuel Kermelk
Samuel Kermelk © Sebastian Willnow

HeiterBlick ist ein Unikum in der Schienenfahrzeugbranche. Einst die Hauptwerkstatt der städtischen Verkehrsbetriebe in Leipzig begann das Tochterunternehmen 2004 mit dem Bau einer eigenen Fahrzeugreihe, dem schmalen „Leoliner“, der heute zigfach in Leipzig und Halberstadt unterwegs ist. Seit Ende 2010 gehört HeiterBlick allein zum Familienunternehmen Kirow Ardelt, einem Weltmarktführer für ausgefeilte Eisenbahnkrane und gewaltige Schlackentransporter.

Im Straßenbahn-Werk unweit der Leipziger Baumwollspinnerei sind heute rund 95 Mitarbeiter beschäftigt. Die lichtdurchflutete Manufaktur wurde jüngst für fast vier Millionen Euro komplett modernisiert. Mit einer getakteten Fließfertigung und drei Arbeitsebenen wurde die Produktion auf mehr Effizienz und höhere Qualität getrimmt. Vorbild für den Ausbau der Produktionshalle und den Ablauf der Montageschritte war das Leipziger Porsche-Werk. Kein Wunder: Geschäftsführer von HeiterBlick ist seit 2011 Samuel Kermelk, früher Leiter Logistikplanung bei den Autobauern. Unter seiner Regie wurde die veraltete Straßenbahn-Werkstatt einer der modernsten Montageorte für Schienenfahrzeuge.

Zu den Kunden gehört außer der Stadt Hannover auch Bielefeld. Deren Stadtbahn „Vamos“ wurde 2012 mit dem internationalen „if“-Produkt-Designpreis ausgezeichnet. Umso schmerzhafter ist es nun allerdings für die Traditions-Schmiede, dass jüngst ein Großauftrag ihrer Heimatstadt Leipzig über 41 Fahrzeuge ausgerechnet an ihnen vorbei zum Konkurrenten Solaris nach Polen ging. Fünf Bahnen sind verbindlich bestellt, weitere 36 sollen in den nächsten Jahren hinzukommen. Ende März wurde der Vertrag unterzeichnet. Umfang des Deals: 120 Millionen Euro.

„Diese Entscheidung hat uns einen Dämpfer verpasst“, räumt Geschäftsführer Kermelk ein. Denn die Hoffnungen waren lange Zeit groß. Inzwischen aber mussten mehr als 20 Mitarbeiter entlassen werden, darunter mehrere Konstrukteure. „Dabei kennen unsere Spezialisten jede Kurve in Leipzig“, sagt Kermelk. 300 000 Euro habe sein Unternehmen in die Leipziger Ausschreibung investiert, sogar ein 1:1-Modell wurde gebaut und die Kalkulation der Produktionskosten gesenkt. Doch gegen Ende des langwierigen Verfahrens habe HeiterBlick kein Angebot abgeben können. Kermelk: „Die zeitlichen und finanziellen Bedingungen waren unrealistisch.“

Besonders die Mitarbeiter sind empört. „Man fühlt sich nicht gewollt“, sagt Betriebsratschef Mike Steinkopf. „Die Verbundenheit der Kollegen mit dem einstigen Mutterhaus ist noch sehr groß. Warum haben wir als ehemaliges Tochterunternehmen der LVB keine Präferenz?“ In anderen Ländern Europas sei es normal, lokale Wertschöpfung bei der Beschaffung zu berücksichtigen. Steinkopf ist seit 30 Jahren in der Firma, der gelernte Fahrzeugschlosser ist heute Vorarbeiter in der Fertigung. Die Belegschaft habe den Eindruck, erzählt er, die Stadt Leipzig wollte vor allem einen Schnäppchenpreis erzielen. Nun gehe die Angst vor weiteren Job-Verlusten um. „Die Mitarbeiter verstehen nicht, warum ihnen solche Steine in den Weg gelegt und Arbeitsplätze in der Region gefährdet werden“, sagt Steinkopf.

Die Leipziger Verkehrsbetriebe weisen die Kritik indes zurück. „Bei einem Projekt von 120 Millionen Euro haben wir uns streng an europäisches Vergaberecht zu halten“, sagte LVB-Geschäftsführer Ulf Middelberg. „Wir tragen schließlich die Verantwortung für öffentliche Gelder, die wir einsetzen.“ Am Ende der Ausschreibung hätten zwei Angebote von Solaris und von Bombardier vorgelegen, nicht aber von HeiterBlick. „Die LVB haben sich dabei für die günstigste Kalkulation von Kaufpreis und Lebenszykluskosten sowie für eine hohe Qualität entschieden“, so Middelberg. Günstiger Nebeneffekt: Bei dem Auftrag könne fast die Hälfte der Wertschöpfung in Ostdeutschland erzielt werden. Solaris lasse die Bahnen bei Voith in Chemnitz konstruieren, Motoren und Getriebe kämen vom VEM Sachsenwerk in Dresden und die Drehgestelle von Transtec Vetschau im Spreewald. Überdies sei künftig die Endmontage in Leipzig denkbar. Die ersten Fahrzeuge sollen Anfang 2017 geliefert werden.

Den Leipziger IG-Metall Chef Bernd Kruppa überzeugt diese Argumentation nicht. Es sei schon merkwürdig, dass Solaris nach der Ausschreibung mehr Zeit für die Lieferung bekommen habe, als zunächst eingeräumt wurde. „Man wollte nicht das Beste für Leipzig, sondern das Billigste“, so Kruppa. Er habe den Eindruck, dass bei der Entscheidung politische Interessen im Spiel waren. „Wir haben nichts gegen die Kollegen bei Solaris. Aber in Bayern oder in Frankreich würde es ein solches Vorgehen nicht geben“, sagt Kruppa. „Es ist traurig, dass in Sachsen keine engagiertere Industriepolitik gemacht wird.“ Gerade der Schienenfahrzeugbau sei eine der wenigen Schlüsseltechnologien in Sachsen.