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Licht und Schatten

Das Haus Schminke in Löbau, bis heute weltberühmt für seine moderne Architektur, soll einst einem Nazi gehört haben? Die jüdische Urenkelin von Fritz Schminke fand heraus, dass die Geschichte nicht so einfach ist.

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© Ronald Bonß

Frank Seibel

Ein Herr aus Löbau, mitten in New York. Rundliches Gesicht, hohe Stirn; die Brille und die Manschettenknöpfe am weißen Hemd lassen ihn klug und kultiviert erscheinen. „Das ist mein Urgroßvater“, sagt Anael Berkovitz und zeigt auf das Schwarz-Weiß Foto im Familienalbum. Als die Kunststudentin vor 30 Jahren geboren wurde, war der Herr schon lange tot. Aber seit einiger Zeit fragt sich Anael Berkovitz immer wieder: Wer war dieser Mann? Wie kommt es, dass sie selbst in Israel zur Welt kam und dort aufwuchs, bevor sie zum Studium nach New York zog? Dass sie über ihre Großeltern und Urgroßeltern kaum etwas wusste – außer, dass Urgroßvater Fritz Schminke ein reicher Nudelfabrikant und im Dritten Reich ein Nazi gewesen sein soll? Und: Was hat es mit dessen Haus in Löbau auf sich, das Architekturliebhaber in der ganzen Welt bewundern?

Anael Berkovitz ist die Urenkelin von Fritz und Charlotte Schminke. Sie wuchs in Israel auf und hatte gelernt, dass ihre Vorfahren Nazis gewesen seien.
Anael Berkovitz ist die Urenkelin von Fritz und Charlotte Schminke. Sie wuchs in Israel auf und hatte gelernt, dass ihre Vorfahren Nazis gewesen seien. © Matthias Weber
Familienglück im Sommer 1934: Charlotte und Fritz Schminke mit ihren Kindern Helga, Erika, Gertraude und Harald.
Familienglück im Sommer 1934: Charlotte und Fritz Schminke mit ihren Kindern Helga, Erika, Gertraude und Harald.

Im März 2016 reiste Anael Berkovitz erstmals dorthin, zu den Wurzeln der Familie ihrer Mutter. Und schon, als sie das Grundstück an der Löbauer Kirschallee betrat, spürte sie, dass an der Nazi-Geschichte, die vor allem ihr Vater in Israel erzählte, etwas nicht stimmen konnte. Denn dieses Haus, das wie ein Schiff zwischen Buchen in einem großen Garten steht, ist so licht, leicht und wirkt so heiter, dass es in völligem Gegensatz zum brachialen Imponiergehabe und zur geistigen Dumpfheit der braunen Diktatur steht. Im Haus Schminke spiegelt sich die ganze Widersprüchlichkeit der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert: Utopien von der Versöhnung individueller Freiheit mit der Geborgenheit einer Gemeinschaft, moderner Technik mit ganzheitlichem Naturempfinden, persönlichem Wohlstand mit sozialer Gerechtigkeit. Es erzählt von großen Hoffnungen und Sehnsüchten wie von dramatischen Wendungen.

Gestaltet hat es einer der bedeutendsten Architekten des 20. Jahrhunderts: Hans Scharoun, weltberühmt geworden durch seine zirkuszeltartig konstruierte Berliner Philharmonie. Am Ende seines Lebens nannte Scharoun dieses Haus der Familie Schminke in Löbau sein liebstes, das er je entworfen hat. Ein Musterbeispiel moderner Architektur, die sich fantasievoll und funktional den Menschen zuwendet, für die sie gemacht ist.

Und doch: Als der Löbauer Nudelfabrikant Fritz Schminke mit seiner Frau Charlotte und den vier Kindern Gertraude, Harald, Erika und Helga in das neue Familienhaus an der Kirschallee am Stadtrand von Löbau einzieht, haben Adolf Hitlers Nationalsozialisten die Macht soeben ergriffen. Wenige Wochen vor dem Umzug brannten überall im Land Bücher liberaler und linker Autoren. Zu diesem Zeitpunkt, im Juni 1933, entschließt sich der damals 35-jährige Kaufmann und Fabrikant Fritz Schminke, in die NSDAP einzutreten. Er, der junge Unternehmer, der Chef von 200 Mitarbeitern in der Löbauer „Anker“ Nudelfabrik? Der kunstinteressierte und moderne Mensch, der mit seiner Frau Charlotte 1929 eigens zu einer bedeutenden Ausstellung moderner Architektur nach Breslau gefahren war, um sich Anregungen für sein eigenes Heim zu holen und nach Möglichkeit auch gleich einen bedeutenden Architekten für sein Projekt zu verpflichten? Ein Mann, der zum modernen Architekten Hans Scharoun eine tiefe und bis ans Lebensende währende Freundschaft entwickelte und über ihn einige der bedeutendsten modernen Künstler kennenlernte, die nun als „entartet“ abgestempelt wurden – so ein Mann war also ein „Nazi“?

Mit dieser Gewissheit reiste Anael Berkovitz seinerzeit nach Löbau. Sie kehrte mit vielen Fragezeichen nach New York zurück. In den folgenden Monaten erfuhr sie, dass ihr Urgroßvater zwar im Juni 1933 in die NSDAP ein-, aber nach einem Jahr wieder ausgetreten war. Im Stadtarchiv von Löbau ist die Karteikarte zu sehen, auf der die Parteimitgliedschaft von Fritz Schminke mit einem roten Strich schlicht annulliert wurde. Die Urenkelin hörte in Löbau eine erstaunliche Geschichte, die alle Schubladen sprengt. Während Schminkes Sohn Harald wegen seines Gardemaßes und der blonden Haare Mitglied der „Leibstandarte SS Adolf Hitler“ wurde, nahmen Fritz und Charlotte Schminke die Tochter eines halbjüdischen Bauhaus-Künstlers bei sich auf, der vor den Nationalsozialisten fliehen musste. Als alte Dame kehrte dieses Mädchen, Ello Hirschfeld, 2012 in das Haus Schminke zurück und erinnerte sich an eine wunderbare, unbeschwerte Kindheit. Sechs Jahre hatte sie hier gelebt, als gehörte sie leibhaftig zur Familie.

Ello Hirschfeld ist in Löbau zur Oberschule gegangen, und das Haus Schminke war so offen für Gäste aus der Stadt und aus der Ferne. Es konnte kein Geheimnis gewesen sein, dass hier ein jüdisches Mädchen untergekommen war. Die Familie Schminke hat nie versucht, dies als Heldentat zu verklären. Kategorien wie „Anstand“ oder „Nächstenliebe“ genügten völlig. Als Anael Berkovitz erstmals das Grundstück an der Löbauer Kirschallee, direkt hinter der seit 25 Jahren leer stehenden Nudelfabrik betreten hat, da empfand sie etwas, was intuitiv nahezu alle Menschen spüren, die das Landhaus der Familie Schminke sehen: Es ist ein zutiefst „menschlicher“ Bau. Das war Hans Scharoun, dem Architekten wichtig.

Einem ersten Vor-Ort-Termin folgte eine intensive Korrespondenz zwischen dem Architekten und dem Bauherrenpaar. Scharoun wollte nicht nur in groben Umrissen wissen, wie viele Menschen in dem Haus leben sollten, wie viele Kinder, wie viele Dienstboten. Ihm war es wichtig zu erfahren, wie die Familie in diesem Haus leben wollte: eher gesellig oder eher abgeschieden, die Kinder als richtige Kinder oder – wie noch in den Generationen zuvor – als kleine Erwachsene. Welche Träume bewegten die Bauherren? Scharoun und Schminke stellten sich das Leben in diesem Haus vor, bevor ein einziger Spatenstich getan war: viel Platz fürs Gemeinsamsein im Erdgeschoss, nur kleine Schlafräume für die Kinder im ersten Stock.

Ein lichtdurchflutetes Wohnzimmer samt Wintergarten. Die großen Fenster sollten die Trennung zwischen Innen und Außen, zwischen Wohnung und Garten aufheben. Hier sollte sich die selbstbewusste und durchaus moderne Charlotte Schminke auch als Hausfrau und Mutter wohlfühlen können, während Fritz Schminke nebenan in der Nudelfabrik im Büro saß. Hier sollten die Kinder sich entfalten können, ausgelassen spielen, im Zentrum des Geschehens sein. Was für ein Lebenskonzept in dieser Zeit: die Kinder als eigenständige Persönlichkeiten im Mittelpunkt! Wer das Haus Schminke betritt, steht sogleich mittendrin in der Kinderwelt, die zugleich das Foyer des Hauses ist. An den Glastüren zum Garten hin sind in die Querstrebung bunte runde Gläser eingesetzt, durch die Kinder die Welt in anderen Farben sehen können. Ein großes Bullauge im Foyer erlaubt es der Mutter oder der Haushälterin, mit einem kurzen Blick aus der Küche die vier spielenden Kinder im Garten zu sehen. Das Wohnzimmer mit Kamin und Riesensofa für viele Menschen, die gleichzeitig aufs Kaminfeuer und in den Garten schauen konnten. Oder es wurden Vorhänge zugezogen und es entstand eine romantische Zelt-Atmosphäre.

Das Haus von Hans Scharoun ist weltberühmt, weil es auf eine einzigartige Weise den Wunsch nach Individualität und Freiheit mit Funktionalität, moderner Klarheit, farbenfroher Fantasie und dem Bedürfnis nach Gemeinschaft verbindet. Die Treppen mit ihren Handläufen, die spitze Form des Hauses erinnern an ein Schiff, ebenso natürlich die Bullaugen in Wänden und an Decken. In Scharouns Meisterwerk ist auch die Erfüllung von Sehnsüchten eine Funktion. Scharoun war inspiriert vom Bauhaus, aber er war kein Bauhaus-Architekt, wiewohl er mit Designern aus der Weimarer und Dessauer Schule eng zusammenarbeitete und mit einigen befreundet war. Die Modernität des Haus Schminke in Löbau ist nicht kühl, sondern kühn, weil sie die Rationalität der modernen Welt mit der Kindlichkeit der Menschen versöhnt.

Die Versöhnung mit der Welt, die Suche nach Heimat: Das sind Leitmotive für das Haus Schminke. Vielleicht ist es auch deshalb genau jetzt so unmittelbar berührend. Die Themen der Zeit waren damals die gleichen wie heute. Fritz Schminke war ein innovativer, mittelständischer Unternehmer mit 200 Angestellten. Er nutzte die Möglichkeiten moderner Werbung, um seine Anker-Nudeln erfolgreich zu vermarkten. Er war in ganz Ostsachsen, im südlichen Brandenburg und vor allem in Niederschlesien hinein mit seinen Produkten sehr präsent. Er galt als sozialer Arbeitgeber, der für seine Angestellten eine großzügige Kantine einrichtete, sie gut bezahlte und mit der Belegschaft feierte, wenn es Anlässe dafür gab. In einem seiner monatlichen Hefte, die er unter dem Titel „Nach Ladenschluss“ für Händler und Kunden herausgab, formulierte Fritz Schminke 1935 – nach dem Austritt aus der NSDAP – seine Sicht auf die Zeit: „Wir können uns heute kaum noch recht vorstellen, wie furchtbar es vor der Machtübernahme durch den Führer in politischer Hinsicht aussah. Eine Vielzahl von Parteien und Parteichen bekämpfte sich gegenseitig bis aufs Blut. Heute gibt es keine Partei-Interessen mehr, sondern nur ein einziges Ziel: Deutschland! Dem entsetzlichen Wirrwarr und der Verwilderung in der Politik entsprachen die Zustände auf wirtschaftlichem Gebiete. Der wirtschaftliche Wettbewerb war nichts weiter als ein Wirtschaftskrieg, dessen Ziel in der Vernichtung des Gegners bestand.“ Nun aber bringe der Nationalsozialismus Ordnung und Fairness ins System. Was die Menschen im Sachsen der 1930er-Jahre fühlten und dachten, wirkt heute beklemmend aktuell.

So wie der Architekt Hans Scharoun nicht in die Bauhaus-Schublade passt, sondern ein Solitär in der Architektur des 20. Jahrhunderts war, so lösen sich beim Haus Schminke und den Lebensgeschichten seiner Menschen die vertrauten Zuordnungen auf: Fritz Schminke war weder ein gieriger Kapitalist noch ein böser Nazi. Er war ein nachdenklicher und gleichwohl lebenslustiger Mensch seiner Zeit; er war modern, individuell und sozial, avantgardistisch und bodenständig. Und er war so mutig, die NSDAP zu verlassen, als die Diktatur sich voll entfaltet hatte.

Allein: Es wurde ihm und der Familie nicht angerechnet. Für die kommunistischen Herrscher nach Ende des Zweiten Weltkrieges waren Schminkes Kriegsverbrecher. Punkt. Die Familie wurde enteignet, die meisten zogen in den Westen. Die Ehe ging zu Bruch, Fritz Schminke konnte kein neues Haus mit Hans Scharoun bauen, sondern zog in ein Reihenhaus in Celle bei Hannover, wo er als Prokurist in einer Keksfabrik arbeitete. Den Glanz von Löbau gewann sein Leben nicht mehr. Aber seine älteste Tochter, Gertraude, fand mit ihrem Mann Helmut Bleks Eingang in die höchsten Kreise der bundesdeutschen Gesellschaft – jene Kreise, die später von den 1968er-Studenten gefragt wurden: Was habt ihr damals eigentlich gemacht, im Nationalsozialismus und im Krieg?

Anael Berkovitz’ Mutter ist die Tochter von Gertraude und Helmut Bleks. Sie gehörte zur 68er-Generation. Als Geste der Wiedergutmachung ist sie nach Israel gegangen und hat dort ihren Mann kennengelernt, dessen Familie in den deutschen Konzentrationslagern ermordet worden war. Anael, die junge israelische Künstlerin, weiß, dass ihre deutschen Vorfahren das NS-System mitgetragen haben und dass deutsche Soldaten sich im Krieg auch mit Anker-Nudeln aus der Fabrik ihres Urgroßvaters gestärkt haben. Aber sie hat im Haus Schminke gelernt, dass die Welt nicht in Schubladen passt. Und einzelne Menschen schon gar nicht.