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Mahlzeit!

Jürgen Reinhardt und seine Mitarbeiter sind täglich in einer Suppenküche im Einsatz. Hier gibt es gutes Essen und auch Lebenshilfe. Die Stiftung Lichtblick hilft dabei.

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© Robert Michael

Von Christina Wittig-Tausch

Mahlzeit ist ein schönes Wort, findet Jürgen Reinhardt. Viel schöner als „Suppenküche“. „Da denkt man doch gleich an Blechnäpfe und dünne Suppe“, sagt der 70-jährige Dresdner. Regelmäßig ruft Reinhardt Lebensmittelhändler an und erkundigt sich nach Preisen und Sonderangeboten für die Suppenküche „Mahlzeit“ im Dresdner Stadtteil Pieschen, die er seit vielen Jahren leitet. Am liebsten meldet er sich mit: „Hallo, hier ist die ,Mahlzeit!‘“

Die Suppenküche „Mahlzeit“ in Dresden-Pieschen gibt es seit vielen Jahren. Sehr direkt geht es hier zu. Der Koch erfährt von den Gästen sofort, ob es schmeckt oder nicht.
Die Suppenküche „Mahlzeit“ in Dresden-Pieschen gibt es seit vielen Jahren. Sehr direkt geht es hier zu. Der Koch erfährt von den Gästen sofort, ob es schmeckt oder nicht. © kairospress

Es ist 10.30 Uhr an diesem sonnigen Dienstag im Januar, und es duftet schon nach Mittagessen in der „Mahlzeit“. Sie ist eine von vier Küchen des Europäischen Instituts für Berufsbildung und Integration e.V. (Eibi). Die Einrichtung in Pieschen ist die Zentrale, hier wird ganz oder teilweise für die anderen Einrichtungen mitgekocht: Rund 300 Mahlzeiten am Tag. Auf einer Tafel neben der Ausgabetheke stehen die heutigen Speisenangebote: Rindergulasch „Asia“ mit Knödeln und Rosenkohl für zwei Euro, Bratkartoffeln mit zwei Spiegeleiern für 1,50 Euro und Weißkrauteintopf für einen Euro, die Tasse für 50 Cent.

Auf den Tischen liegen noch die Weihnachts-Wachstuchdecken, darauf stehen Vasen mit frischen weißen Tulpen oder roten Rosen. Einmal kam ein Paar herein, setzte sich, wartete auf den Kellner. Stattdessen tauchte Jürgen Reinhardt auf und erklärte höflich, dass die Herrschaften sich in keinem gewöhnlichen Restaurant befänden. Sondern in einem Sozialrestaurant mit Bedienungstheke, das bedürftigen Menschen vorbehalten sei. Also Menschen, die einen Dresden-Pass besitzen, Hartz IV erhalten oder eine Monatsrente von weniger als 750 Euro. „Das Paar war verwirrt, sie dachten wirklich, sie säßen in einem richtigen Restaurant.“ Jürgen Reinhardt lächelt, als er das erzählt, aber nur kurz. Er eilt davon, um eine ältere Kundin zu begrüßen, die gerade die „Mahlzeit“ betritt.

Im Gastraum sitzt bislang nur ein älterer Mann, vor sich eine Tasse Kaffee und einen Teller Gulasch. Es ist gerade relativ ruhig. Um neun Uhr morgens öffnet die Suppenküche, jeden Tag, auch am Wochenende und an Feiertagen, um 18.30 Uhr schließt sie. Der Frühstücksbetrieb ist vorbei, der Mittagstrubel hat noch nicht begonnen. Jürgen Reinhardt geht in sein Büro, das ungefähr so groß ist wie eine Toilette oder ein kleines Bad. Reinhardt trägt einen weißen Kittel. Er muss sich mit Abrechnungen und der Mehrwertsteuer befassen. Die Bürotür bleibt die ganze Zeit offen, genau wie die Tür zur Küche: Die Gäste können sehen, was sich in der Küche tut. Auch sonst ist die gesamte „Mahlzeit“ sehr überschaubar. Einst gab es hier eine Fleischerei. Eine Kundin hat das erzählt, die da vor vielen Jahren gelernt hatte. Seit 2007 residiert die Suppenküche in den Ladenräumen auf der Bürgerstraße, gegenüber vom Rathaus Pieschen.

Gegen 11 Uhr füllt sich das kleine Restaurant. Auch Wolle ist gerade gekommen, sagt: „Das ist schön, dass man so viel von den Leuten mitbekommt.“ Wolle hat auch einen richtigen, bürgerlichen Namen, „aber jeder nennt mich halt nur so“. Der 37-Jährige ist Koch, gelernt hat er in einem großen Dresdner Hotel. Dann wurde er arbeitslos. „Es lag mir nicht, zu Hause zu sein und nichts zu tun“, erzählt er. Also bot er an, in der „Mahlzeit“ zu helfen, denn er wohnt gleich um die Ecke. Das Jobcenter Dresden schickte ihn in die Suppenküche, befristet auf ein halbes Jahr, denn die sogenannten „Ein-Euro-Jobber“ sollen möglichst schnell auf dem richtigen Arbeitsmarkt Beschäftigung finden. Inzwischen hat Wolle wieder eine Stelle als Koch in einem Seniorenheim, guckt aber gern und häufig vorbei, hilft gelegentlich. „Man kennt hier so viele“, sagt Wolle, und viele kennen ihn, winken ihm zu von den Tischen, rufen seinen Namen durch den ganzen Raum. „In einem normalen Betrieb hat man als Koch so gut wie keinen Kontakt zu den Menschen“, sagt er. „Hier ist es beinah familiär. Wenn es den Leuten mal nicht geschmeckt hat, sagen sie das unverblümt. Aber man bekommt eben auch mit, was sie beschäftigt, wie sie sich freuen und dankbar sind.“ So wie jenes ältere Ehepaar, das schüchtern fragte, ob sie anschreiben lassen könnten, weil das Amt noch kein Geld ausgezahlt hatte. Sie durften. Nach einer Weile kamen sie, zahlten ihre Schulden und gleich 100 Euro für die nächsten Essen. Sie brachten Blumen mit, als Dankeschön.

Es sind die unterschiedlichsten Menschen mit ganz verschiedenen Schicksalen, die die „Mahlzeit“ aufsuchen, manche über Jahre: Alleinerziehende mit Kindern, Alleinstehende, Rentner, Menschen mit körperlichen oder psychischen Krankheiten, Langzeit-Arbeitslose, Obdachlose. Junge Menschen aus schwierigen Familien. Menschen, die durch Trennung oder Scheidung aus der Bahn geworfen wurden. Manche Besucher haben ein ganzes Bündel dieser Probleme zu tragen. Die „Mahlzeit“ will ihnen nicht nur warme, günstige, möglichst hochwertige Mahlzeiten bieten, sondern auch einen Raum für Begegnung, Gespräch, Lebenshilfe. „Das ist mehr als nur Essen und Trinken, das ist sozialer Rückhalt, und der ist auch wichtig“, sagt Jürgen Reinhardt. „Letztes Jahr hatten wir gleich drei schwer krebskranke Männer, die fast bis zuletzt kamen.“ Sogar Menschen mit Laptops am Tisch sind manchmal zu sehen, sagt Reinhardt: „Das sind die, die überraschend arbeitslos geworden sind, weil die Firma pleitegegangen ist. Das kann schnell gehen mit dem sozialen Abstieg.“

Rückhalt sollen nicht nur die Gäste bekommen, sondern auch ein großer Teil der Mitarbeiter. Jürgen Reinhardt und der Koch und Küchenmeister Joachim Seidler sind fest angestellt in dem kleinen sozialen Betrieb. Derzeit hilft ein junger Mann vom Bundesfreiwilligendienst mit. Die anderen zwölf Mitarbeiter werden durch das Jobcenter gefördert. Meist für ein halbes Jahr, in manchen Fällen ist eine Verlängerung möglich. Fünf Stunden dürfen sie täglich arbeiten. Oft sind das schwierige Fälle. Langzeitarbeitslose zum Beispiel, Jugendliche ohne Beruf, Menschen mit Drogenproblemen oder Krankheiten. „Ich bin nicht nur Koch, sondern auch eine Art Sozialarbeiter“, sagt Joachim Seidler. „Mit zack, zack und knappen Befehlen geht es hier nicht. Man muss ziemlich sensibel sein.“ Der 60-Jährige hat schon alles mögliche erlebt: junge Leute, die an der Theke bedienen und kassieren sollten, die aber eine Lese- und Rechenschwäche hatten. Alkoholkranke, die es normal fanden, täglich eine Kiste Bier zu leeren. Menschen, die ohne Entschuldigung nicht kamen oder ganz wegblieben. Ständige Unpünktlichkeit. Manche verwechseln die Schichten. Andere haben lebenslang von den Eltern oder in der Schule gehört, dass sie zu nichts taugen. Joachim Seidler zeigt allen Schritt für Schritt, wie man Gemüse schnippelt. Er hat sich gefreut über ein Mädchen, das sich gar nichts zutraute, in der „Mahlzeit“ aber Freude am Backen entdeckte. Sie war glücklich über jeden Rührkuchen, der gelang.

Wahrlich, es ist eine besondere Stelle, die Joachim Seidler da übernommen hat: Er muss ständig aufpassen, dass die technische Ausstattung läuft, die 300 Mahlzeiten auf den Punkt fertig sind, die Hygiene eingehalten wird, und manchmal muss er improvisieren. Einmal erhielt die Suppenküche Hummer, und auch Jakobsmuscheln und Austern waren bei Spenden dabei. „Das kann man den Leuten hier nicht vorsetzen“, sagt Seidler. Der Hummer wurde zu Fischragout verarbeitet, die Meeresfrüchte zu Fischplatten.

Die Suppenküche gibt es seit 1993, und seither leitet und prägt Jürgen Reinhardt die Einrichtung. Er begann als Ehrenamtlicher. Im Hauptberuf leitete der Ökonom und Hotelier damals das Waldparkhotel in Blasewitz. 1996 jedoch wurde das Hotel geschlossen. Als Reinhardt das Rentenalter erreichte, setzte er sich nicht zur Ruhe, sondern übernahm eine Teilzeitstelle in der Suppenküche. Er freute sich, als 2007 das Domizil in Pieschen bezogen wurde. „Mit rund 20 000 Euro haben wir das komplett eingerichtet, Küche, Speiseraum, Büro, Auto, alles“, sagt er. Es klingt sehr stolz. Möglich war das nur, weil die Stadt Dresden die Erstausstattung förderte und fast alles gebraucht gekauft wurde. Die Stühle und Tische stammen aus einem Klub der Volkssolidarität. Auch die Stiftung Lichtblick unterstützt den Verein und seine Suppenküchen seit vielen Jahren. Mit der diesjährigen Spende konnte eine neue Waschmaschine gekauft werden.

Die „Mahlzeit“ erhält zwar Lebensmittel von der Dresdner Tafel und von Spendern, muss aber aus den erwirtschafteten Einnahmen Grundnahrungsmittel – wie Kartoffeln und Frischfleisch – finanzieren, Küchenzubehör, Technik und das Auto, das die Lebensmittel einsammelt. Das erfordert nicht nur Preisvergleiche, sondern gute und regelmäßige Kontakte zu den Großhändlern. „Man muss pünktlich sein, zuverlässig und ehrlich“, sagt Reinhardt. Immer wieder sagt er diese Worte, mit der Entschiedenheit eines Generals, der eine Schlacht vorzubereiten hat: Zuverlässigkeit, Ehrlichkeit. Fast täglich um 13 Uhr muss beispielsweise ein bestimmter Händler angerufen werden. Hat er ein interessantes Angebot, muss das Auto um 14 Uhr bereitstehen. „Ich sage den Händlern genau, was wir nehmen und was wir damit machen“, erzählt Reinhardt. „Und ich lade sie dazu ein, bei uns zu essen und sich anzugucken, was wir hier machen.“

Kurz nach 13 Uhr, die „Mahlzeit“ ist nun voll besetzt, möchte Jürgen Reinhardt essen gehen. Erst aber begrüßt er noch verschiedene Stammgäste, die sich meist an bestimmte Tische setzen. An einem der Stammtische sitzt ein großer, breiter Mann, der 61-jährige Klaus Jursch. Ihm gegenüber Brunhilde Czernek, 72. Sie essen Gulasch und Salat und unterhalten sich über Höflichkeit, die, so findet Frau Czernek, immer mehr abnimmt, bei Jungen und Alten gleichermaßen. Das Essen in der „Mahlzeit“ sei sehr gut, meinen beide. „Und wenn nicht, dann sage ich das offen“, erzählt Brunhilde Czernek. „Ich sage lieber, was ich denke. Damit eckt man zwar häufig an, aber ich finde das besser so.“ Das halte sie in der „Mahlzeit“ genauso wie letztes Jahr im Wahlkampf, als sie verschiedene Landtagskandidaten an ihren Ständen befragte. Gelegentlich besucht sie mit ihrem Frauenverein Landtagsdebatten. „Neulich haben wir einen Abgeordneten beobachtet, der hat die ganze Zeit an seinem Computer herumgefummelt und dann an seinen Fingernägeln. Wir haben schon überlegt, ob wir das mal dem Landtagspräsidenten mitteilen, aber das hab ich mich dann doch nicht getraut.“ Klaus Jursch lacht.

Irgendwann, es geht auf 14 Uhr zu, schafft es Jürgen Reinhardt, selbst Mittag zu essen. Eigentlich, erzählt er, wollte er mit 70 Schluss machen mit der Arbeit für die „Mahlzeit“, seine Frau würde sich darüber freuen. Der runde Geburtstag ist längst verstrichen, dieses Jahr wird Reinhardt 71. Sein Blick gleitet durch den Raum und über die Menschen. Nein, er kann noch nicht sagen, wann er aufhört.