Jörg Stock
Sächsische Schweiz. Es gibt nur eine Richtung: aufwärts. Das hat André zu mir gesagt, bevor er in die Wand stieg. Sollte es doch nach unten gehen, dann höchstens einen halben Meter. Dann würde mich das Seil stoppen. Ich bin kurz davor, es zu riskieren. Ich strecke und recke mich, aber die Finger wollen einfach nicht heranreichen an die kleine Schrunde im Fels, die mir Halt geben könnte. Könnte, wohlgemerkt. Man muss in den Sandstein reingewachsen sein, auch das hat André gesagt, um abzuschätzen, was er aushält und was nicht. Selbst dann bleibt er ein Mysterium wie das Buch mit den sieben Siegeln.
Aufstieg zum Mönchstein
Als der Kletterführer André Zimmermann mir eröffnete, dass mein erster Gehversuch als Klettersportler auf dem Mönch stattfinden soll, bin ich fast vom Stuhl gekippt. Oft schon hatte ich den Felsenturm bei Rathen betrachtet, diesen grauen Riesen, der, abgesehen von einem blechernen Betbruder, meist auch richtige Menschen auf seinem Haupt trug. Wie verrückt muss man sein, um da oben rumzukraxeln, hatte ich mich gefragt. Und vor allem: Mit welchem Trick kommt man da hinauf?
Um das herauszufinden, muss ich schätzungsweise fünfzig Meter überwinden. Ohne Hilfsmittel, nur mit Muskelkraft. So will es das Gesetz des sächsischen Klettersports. Es heißt, der sächsische Stil sei genau hier, am Mönchstein, begründet worden, als 1874 zwei Enthusiasten aus Pirna-Posta ohne alles Hilfswerkzeug hinaufstiegen. Ihr Weg ist heute meiner. Er heißt jetzt Südostweg, auch Uferweg, Schwierigkeitsgrad III. Ob das gefährlich ist?
Schwierigkeit und Gefahr hängen nicht unmittelbar zusammen, hat André gesagt. Der Kletterer entscheidet selbst, welches Risiko er eingeht und damit auch, welcher Gefahr er sich aussetzt. Das ist die Freiheit, die er am Felsen hat, eine Freiheit, mit der umzugehen er lernen muss.
Ein Martyrium für die Zehen
Ich bin immer noch am Einstieg. Der Einstieg ist das Schwerste. Es soll hier Tritte und Griffe aus dem Mittelalter geben, als der Fels ein Ausguck der Burg Neurathen war. Doch ich sehe keine. Ich muss nehmen, was die Natur bietet. André hat mir eingeschärft, dreidimensional zu denken. Klettern heißt Geduld haben, hat er gesagt, und manchmal auch verzichten. Ich verzichte also auf den lockenden Anhaltspunkt, der so nahe und doch unerreichbar ist, und taste nach anderen Runzeln in der Felsenhaut. Und siehe, da findet sich eine, die passabel wirkt. Ob ich ihr trauen kann, weiß ich nicht. Ich traue dem Seil. Es ist straff. André über mir passt auf. Ich greife zu, spanne die Muskeln – der Stein hält. Der erste Meter ist gemacht. Ich bin drin!
Ich bin drin, aber noch weit weg vom ersten Pausenplatz, irgendwo hinter dem mächtigen Riss, der mein Wegweiser ist. Der Fels gibt sich jetzt weniger schroff, bietet mehr zum Festhalten und Drauftreten. Apropos treten: Meine knallroten Kletterschuhe sehen zwar schnieke aus, drücken aber wie verrückt. Ich kann nicht mal die Zehen ausstrecken. Ich komme mir vor wie das falsche Aschenbrödel im Glaspantoffel. Das soll so sein. Mit dem knappen, gummibesohlten Schuhwerk lässt sich große Kraft auf kleine Flächen übertragen, hat mir André erklärt. Der Schuh kann auch Schmerzen lindern, wenn man in Rissen klettert oder auf Kanten tritt. Ich weiß nicht, welche Schmerzquelle im Moment stärker ist: der Stein oder der Schuh.
Voran! Der Riss weitet sich. Links ein kleines Plateau. Dreidimensional denken! Ich drücke meinen Rücken gegen die Felswand hinter mir, den linken Fuß auch, den rechten nach vorn, keile mich so irgendwie aufwärts. Ameisen überholen mich, würdigen meinen Kraftakt aber keines Blicks. Dafür ist André, der mich in einer sandigen Höhlung erwartet, ganz zufrieden. Wie eine Katze bin ich geklettert, findet er. Die Katze keucht und klinkt ihren Karabiner in die Schlaufe ein, die um einen Steinklotz liegt. Einen Ring gibt es nicht. Typisch sächsisch. Wer Sicherungen will, der muss sie meistens selber bauen. André ordnet seine Ausrüstung, betreibt „Seilhygiene“. Ich gucke in die Landschaft. Wir sind schon höher als alle Baumkronen. Und noch höher, über unseren Köpfen, liegt die neue Aufgabe: der Kamin.
Finale ist ein Spaziergang
André steigt voraus, und bald sehe ich nur noch die gähnende Felsspalte und das baumelnde Seil, das mir die Richtung vorgibt. Kletterseile sind nicht bloß ein Stück Ausrüstung, sagen die Traditionalisten unter den Kletterern. Sie sind eine mentale Kupplung zwischen Bergkameraden, zwischen Freunden. Eine Verbindung, auf die man bauen kann. Ich ahne, was damit gemeint ist.
Ich klemme mich hinein in den Stein und schiebe mich aufwärts, Zentimeter um Zentimeter. Eine stellenweise schmerzhafte Aktion. Kleine Felsnasen knuffen mich ins Kreuz. Ich bin nicht abgehärtet wie Abratzky, der Essenkehrer, der auf diese Weise die Festung Königstein erklomm. Aber meckern will ich nicht, habe ja auch die Belehrung unterschrieben: „Schrammen und blaue Flecke können von Deinem Tourenführer nicht verhindert werden.“
Der Kamin endet. Und wie geht’s weiter? „Nach links, auf die Kante!“, ruft es von oben. Nach links? Ich klettere nach links. „Noch weiter! Geh’ richtig raus!“ Ich gehe richtig raus und … Scheiße, ist das hoch! Kein Fels mehr vor meinem Kopf, sondern Luft! Das weite Elbtal! Unter mir blaugrau der Strom, die Fähre, eine Flotte Schlauchboote, klein wie Spielzeug in einer Badewanne. Jetzt wird es schwierig, mental gesehen. Nur schnell rauf auf den Absatz, festen Grund gewinnen, meine Selbstsicherungsleine in die Abseilöse haken, Karabiner zuschrauben – durchatmen: Diese Leine hält anderthalb Tonnen aus.
Das Finale fühlt sich fast an wie ein Spaziergang. Auf dem mäßig steilen Haupt des Felsens erreichen wir schnell den Gipfel. Ich schreie vor Freude ein Juhu in den Wind. „Das war der falsche Gipfelgruß“, sagt André. Also noch mal richtig: „Berg Heil!“ Dann tragen wir uns ins Gipfelbuch ein, unter den Augen des Blechmönchs und eines Pulks Touristen, der drüben bei der Felsenburg am Geländer lehnt und alle Feldstecher auf uns gerichtet hat.
Genau so habe ich auch oft geguckt. Stolz wie Bolle bin ich, heute mal auf der anderen Seite des Okulars zu stehen. Ich weiß jetzt, dass man kein Zauberer sein muss, um hier rauf zu kommen, und verrückt sein muss man auch nicht. Aber im Augenblick finde ich es ganz in Ordnung, dass die da drüben das nicht wissen.