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Mein Umfall

Sterben ist wunderbar. Drei Worte, ein einfacher Satz, aber eine Ungeheuerlichkeit für viele Menschen, die den Tod ganz anders sehen. Als Strafe, als Mauer, und dahinter: nichts, gar nichts. Man kann den Tod auch anders sehen.

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Von Christina Wittig-Tausch

Sterben ist wunderbar. Drei Worte, ein einfacher Satz, aber eine Ungeheuerlichkeit für viele Menschen, die den Tod ganz anders sehen. Als Strafe, als Mauer, und dahinter: nichts, gar nichts.

Man kann den Tod auch anders sehen. „Sterben ist wunderbar“, sagt George Alexander Albrecht. „Ein Wunder wie die Geburt. Schwer für den Körper, befreiend für die Seele.“ Der Dirigent wirkt gelassen, die Augen hinter der randlosen Brille leuchten. Er sitzt in seinem Korbstuhl im Musikzimmer seines Hauses in Weimar. Das Zimmer ist eine Art Wintergarten, mit einem Flügel darin und mehreren Instrumenten. Es duftet nach Jasmintee, Mandarinen und Keksen. Draußen segeln sanft die Blätter von den alten Bäumen. Bella, der goldblonde Labrador-Retriever, liegt neben dem 76-Jährigen, schläft und schnarcht.

Der Satz klingt noch im Raum. Irritierend. Sterben ist wunderbar. Es ist nicht einfach so dahingesagt, es ist die Summe einer lebenslangen Auseinandersetzung und einer persönlichen und sehr subjektiven Erfahrung. George Alexander Albrecht ist dem Tod, dem eigenen, einmal sehr nahegekommen. Und er betreut sterbende Menschen.

Ein großes Licht

Über den Tod hat Albrecht schon als Junge nachgedacht. Er war ein schüchternes Kind, sagt er, „ganz verpuppt und glücklich in der Musik“. Gustav Mahler faszinierte ihn und Mozart, „dem ich jede Note glaubte, und seine Briefe verschlang ich“. Als Mozart mit seiner Mutter in Paris war, musste er den Vater auf den Tod der Mutter vorbereiten – und schrieb: „Der Tod ist der beste Freund des Menschen“. Kein Feind. George Alexander Albrecht hat es immer gehalten wie Mozart, der sich keinen Abend zu Bett legte, ohne zu bedenken, dass er am nächsten Tag vielleicht nicht mehr erwachen würde.

Es dauerte noch eine ganze Weile, bis George Alexander Albrecht dem Tod persönlich begegnete. Er wurde mit 29 Jahren Generalmusikdirektor in seiner Heimatstadt Hannover und blieb das 32 Jahre; dirigierte aber auch andere Orchester innerhalb und außerhalb von Deutschland. Er heiratete zwei Mal und wurde fünf Mal Vater. 1993 ging er nach Dresden, „einem meiner Sehnsuchtsorte, der Wirkungsstätte von Richard Wagner und Richard Strauss“, und arbeitete an der Semperoper. Drei Jahre später zogen die Albrechts an einen anderen Sehnsuchtsort. Nach Weimar, der Stadt der Klassiker.

George Alexander Albrecht wurde Chef der Staatskapelle Weimar. Außerdem unterrichtete er an der Musikhochschule. „Ich war ein typischer Dirigent“, sagt er, lacht und zitiert Wilhelm Furtwängler, den älteren Kollegen: „Dirigieren verdirbt den Charakter.“ Dem Dirigenten wird gehorcht, meist bedingungslos. Er ist es gewöhnt, dass Musiker und Publikum ihm folgen und dass alles so geschieht, wie er es sich vorstellt. Das fördert, um es vorsichtig zu sagen, nicht gerade die Herausbildung eines demütigen Charakters. „Der Dirigent ist ein Despot“, sagt George Alexander Albrecht, und wie er das so sagt, klingt es ziemlich despotisch.

Und dann kam jener Tag im Jahre 2002, der Tag „meines Umfalls“. Zu Neujahr erklomm er das Pult im Weimarer Nationaltheater, um Beethovens 9. Sinfonie zu dirigieren. Er hatte hohes Fieber und arbeitete dennoch. „Ich habe die Neunte schon oft dirigiert, aber diese Aufführung war außergewöhnlich schön“, sagt er. Kurz vor Schluss passierte es. Ihm wurde schlecht, er klammerte sich an der Balustrade fest, „was mir noch nie in meinem Musikerleben passiert war“. Dann versagten für kurze Zeit Herz und Kreislauf, er fiel um – und fand sich außerhalb seines Körpers wieder, irgendwo im Raum. Aber der Begriff „Raum“ spielte in diesem Augenblick keine Rolle mehr. „Ich war blitzartig, innerhalb eines Augenblicks, außerhalb von Raum und Zeit. Ich war befreit davon. Ich war nicht mehr in meinem Körper, aber so bewusst und wach wie noch nie.“ Völlig gelassen beobachtete er, wie die Musiker sich um seinen Körper scharten und nach Hilfe riefen. Eine der Sängerinnen kniete neben ihm und betete. Aus dem Publikum eilte ein Mann herbei, ein Arzt, riss ihm das Hemd entzwei, alle Knöpfe flogen davon, und begann mit Herzdruckmassage. „Ich dachte: Was tut ihr da? Es ist doch so schön hier.“ Er sah, empfand ein großes, überwältigendes Licht. Dann zog ihn etwas zurück. Das Herz schlug wieder, und plötzlich war Albrecht zurück in seinem Körper und blickte in lauter besorgte Gesichter.

Er hält inne. Bella grunzt ein bisschen. Er hat schon einige Male über sein Nahtoderlebnis gesprochen, aber es ist ihm „heilig“, er möchte es nicht entweihen durch zu viele Worte. „Zudem gibt es kaum Worte für diesen Zustand“, sagt er. „Andererseits habe ich das Gefühl, ich müsse diese Erfahrung weitergeben. Weil mein Sterben keine angstvolle Erfahrung war.“

Er merkte schnell, wie schwer es ist, diese Erfahrung zu vermitteln. Viele Menschen wollen nicht über den Tod nachdenken und nicht über ihn sprechen. „Der Tod wird eingeschlossen in Kliniken, Pflegeheime, Hospize“, sagt Albrecht. „Fast alles scheint sich um Events, Profit und Wellness zu drehen. Wenn der Umgang mit Sterben und Tod ein Gradmesser für die Kultur eines Volkes ist, sind wir kein Kulturvolk.“ Manchmal fragen ihn Menschen, die er von früher kennt: Und, was machst du jetzt so, als Rentner? Er sagt dann: Ich betreue Sterbende, und ich mache Musik, auch wenn ich kaum noch dirigiere. Er ist bereit, über beides zu sprechen, über Musik und Tod – „aber die meisten reden sofort von der Musik, nur von der Musik“.

Seine Geschichte vom Umfall stößt häufig auf Skepsis. Nahtoderfahrungen sind umstritten. Zu allen Zeiten und in vielen Kulturen gab und gibt es Berichte über ähnliche Eindrücke. Manchen gelten sie als Beweis für eine Existenz nach dem Tod, für eine höhere, göttliche Ordnung. Andere halten sie für ein Gespinst, das ensteht durch Sauerstoffmangel und bestimmte Hormone, die das verrückt spielende Gehirn in den letzten Lebensmomenten produziert. Eine Art Fata Morgana, genährt durch Glaube und die Wunschvorstellungen, die sich die jeweilige Kultur über das Jenseits macht. „Für mich war und ist es real“, sagt Albrecht.

Diener sein und nicht Despot

Der „Umfall“ war ein Einschnitt, genau wie die schwere Rückenoperation einige Jahre später, bei der nicht klar war, ob er aus der Narkose aufwachen würde – und wenn doch, in welchem Zustand. Auch eine Querschnittslähmung schlossen die Ärzte nicht aus. George Alexander Albrecht aber erwachte, eingegipst und hilflos wie ein Kind. Neben der Familie war es vor allem die Musik, die ihn antrieb: Fünf Tage vor der Operation hatte er eine Motette über die heilige Elisabeth von Thüringen begonnen, die er unbedingt beenden wollte. Nach einigen Tagen schrieb er wieder Noten und schwankte bald mit dem Rollator zur Orgel in die kleine Kapelle der Klinik. Außerdem wollte er das weiterführen, was er als seine „Mission“ beschreibt: Diener sein, nicht Despot.

Deshalb arbeitet er als ehrenamtlicher Sterbebegleiter. Morgens nach dem Frühstück komponiert er zwei bis drei Stunden. Danach geht er in Hospize, Kliniken, Altenheime zu todkranken Menschen. Dahin, wo die Koordinatorin ihn hinschickt. Täglich, außer an den Wochenenden. Er setzt sich an die Betten und hört zu. Wenn die Menschen beten wollen, betet er, der gläubige Katholik, mit ihnen, „aber die meisten möchten nicht beten“.

Das Sterben hat viele Gesichter und viele Facetten. Manche der Kranken kämpfen noch an gegen den Tod, lehnen sich auf, sind voller Zorn, Fragen, Angst. Die körperlichen Schmerzen kann die moderne Medizin nehmen, das Hadern mit Fehlern und Traumata nicht. Viele der Männer, die George Alexander Albrecht besucht, waren im Krieg, aber haben nie über das Schreckliche gesprochen, das sie gesehen und vielleicht selber getan haben. Nun drängt es heraus, wie die Geschichte jenes Mannes, der seinen Freund erschießen musste – weil dieser desertieren wollte.

Aber dann gibt es noch andere Seiten des Sterbens. Das würdevolle Hinnehmen des Unvermeidlichen, dem keiner von uns ausweichen kann. „Wenn jemand stirbt, wird die Atmosphäre im Haus immer behutsamer“, sagt Albrecht. „Die Sterbenden bekommen eine Autorität, der sich niemand entziehen kann. Als wüssten sie, wie wesentlich der Weg ist, den sie jetzt gehen. Und viele, wirklich ganz viele, haben nach dem Tod ein kleines Lächeln.“

Als er mit der Hospizarbeit begann, sorgte sich seine Frau, dass er vielleicht depressiv werden würde. „Das Gegenteil ist der Fall“, sagt Albrecht. Einmal ist er aus dem Zimmer geworfen worden, aber er hat auch neue Freunde gefunden. Es sind Freundschaften auf Zeit, intensive Begegnungen mit den unterschiedlichsten Menschen, die eine halbe Stunde dauern können oder ein Jahr. Er erzählt von einem Mann, einem Atheisten, mit dem er lange und intensiv philosophierte. Kurz vor seinem Tod sagte der Mann, zur Zimmerdecke blickend: „Mit mir wird es nichts mehr. Das steht da oben geschrieben.“ George Alexander Albrecht sagte: „Na, Sie sind mir ja ein schöner Atheist“ – und die beiden lachten.

Nicht jeder Besuch endet so heiter. George Alexander Albrecht geht dann nach Hause und wandert mit Bella und seiner Frau lange durch die Hügel rings um Weimar. Oder setzt sich in den Garten und hört der Stille zu. „Das ist wunderbar“, sagt er .