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Mode der eigenen Mitte

Lisa Hartmann und Judy Dreyer leben die 50er-Jahre mit Haut und Haar. Dafür müssen sie jagen und sammeln.

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Von Nadja Laske

Es ist der Anfang von Toast Hawaii und Currywurst. Die Zeit von Elvis Presley und Marilyn Monroe, der kubanischen Revolution und des Wunders von Bern. Fury galoppierte über die Bildschirme und der Fahrstuhl zum Schafott stoppte auf nächtlicher Fahrt. Jahre zwischen Nachkriegsdepression und Neubeginn. Nicht annähernd gelobt wie die 60er und viel weniger gehasst als die 80er. Lisa Hartmann und Judy Dreyer lieben dieses Lebensgefühl. Wegen der Röcke und dem Rock’n’Roll, der Nierentische und gut gesteckten Nackenrollen. Die beiden pflegen den Stil der 50er-Jahre. Mit Haut und Haar.

„Ich bin vor etwa drei Jahren auf diese Mode gekommen“, sagt Lisa Hartmann. Wenn sie heute jemandem Fotos von sich als Schülerin zeigt, erkennt er sie kaum wieder. Jeans, Shirt und Turnschuhe, sportlich jungenhaft, das war ihr Outfit. „Dabei habe ich weibliche Kleidung immer schön gefunden und auch die aus vergangenen Zeiten“, sagt sie.

Spickzettel für toupierte Tollen

Im Eiscafé Tikibar im Hechtviertel hat sie ihre Freundin Judy getroffen. Mit geradem Rücken sitzen die Ladys auf Gartenstühlen und zutschen Erdbeer-Shake durch dicke Trinkhalme. Ihre Lippen sind noch röter als der Genuss im Glas. Kirschton und Koralle. Letztere liebt Judy besonders, Lippenkonturen wie mit Feinliner gezogen. Das Make-up umspannt perfekter ihr Gesicht. Als Vintage Stylistin Miss Mint hat die 26-Jährige in der Szene bereits einen Namen. Einen eigenen Friseursalon außerdem. Ihren Look pflegt sie als private Passion und Profession.

Gerade hat Judy Dreyer ein Buch herausgebracht: „Be Vintage – Frisurenanleitung für jeden Tag“ heißt es. Das Ringbuch lässt sich auf jedem Frisiertisch aufstellen, als Spickzettel beim Formen, Föhnen, Stecken und Toupieren. Viel zu wenige hat sie drucken lassen. Nun warten die Freundinnen der aufwendigen Dutts und Haartollen auf Nachschub. „Ich hätte nicht gedacht, dass es sich so rasend schnell verkauft und war ganz panisch, als die gestapelten Kartons im Flur auf einen einzigen geschrumpft waren“, erzählt sie. Ein schöner Erfolg, der die Salon-Chefin stolz macht. Für September verspricht sie die nächste Auflage. Um eine zu große Anhängerschaft der 50er-Jahre-Mode sorgt sie sich jedoch nicht. Obwohl der Bestand entsprechender Klamotten jährlich sinkt. Jedenfalls was originale Kleider, Blusen und Röcke anbelangt. Die zu erobern gleicht einer Jagd, die Judy und Lisa weltweit betreiben. Noch gibt es gut erhaltene Stücke, doch die werden mit den Jahren immer seltener und teurer. Auf einschlägigen Internetportalen sind sie Dauergäste, kaum einen Onlinehandel, den sie nicht kennen und durchforsten. Auch neu genähte Kleidung im Stil der Sehnsuchtszeit ist ihnen recht. Original oder nicht, Schnäppchen sind der größte Spaß und die Wartezeit nach Kaufabschluss per Mausklick ähnelt weihnachtlicher Vorfreude. Hohe Zölle für Lieferungen aus Amerika nehmen sie als nötiges Übel hin. Doch nichts kann so an die Nieren gehen wie zu enge Hosen mit ultimativ hohem Taillenbund. „Zu groß und weit ist gar kein Problem, das kann man vom Schneider alles ändern lassen“, sagt Lisa. Aber wirklich frustrierend sei die Erkenntnis: In dieses Kleid passen meine Kurven beim besten Willen nicht hinein.

Jagen und sammeln, wie Judy es nennt, können die beiden auch prima auf Flohmärkten und im Second-Hand-Bereich. Dort suchen sie nicht nur nach authentischen Stöffchen, sondern auch nach Möbeln und Hausrat. Denn Judys und Lisas Leidenschaft erschöpft sich nicht am eigenen Körper. Sie umgeben sich auch im Alltag mit der Aura der 50er. Trödelmärkte spülen immer wieder hübsche Stücke an Land. Die sind meist erschwinglich, was Lisa viel mehr als ihre Freundin interessiert.

Komplimente von Alt und Jung

Schließlich ist die 21-Jährige noch in der Ausbildung. Erzieherin will sie werden – kein Beruf, in dem der Fokus auf Schönheit liegt. Mit Kindern im Sand matschen, geht denn das mit Petticoat unterm Rock? „Ganz super“, sagt sie. „Weder bei der Arbeit mit Kindern noch mit alten oder behinderten Menschen war das jemals ein Problem.“ Nicht einmal die stilsicher lackierten Fingernägel sind ein Hindernis – weder im Salon noch auf der Matschstrecke des Kindergartens. Ganz im Gegenteil, die Kleinen schwärmen geradezu: „Du siehst so schön aus!“ Auch Senioren machen Komplimente. Klar werden die jungen Damen, die das Gegenteil von der heutigen Hüfthose tragen, in der Öffentlichkeit angeschaut, aber immer mit einem freundlichen Lächeln. „Ganz oft hören wir von älteren Frauen den Satz: Das habe ich früher auch getragen“, erzählt Lisa.

Mit ihrem Faible sind die zwei nicht allein. Einen großen Freundeskreis haben sie um sich, mit dem sie regelmäßig zu Festivals fahren. Bis nach Spanien und Schweden reisen sie, um ganze Wochenenden in der längst verflossenen Dekade zu schwelgen. Dann haben sie meist auch ihre Männer dabei. Sie teilen die Vorliebe ebenfalls. Nur haben sie es etwas leichter, ihren Kleiderschrank zu füllen. „Im Alltag tragen sie meist Jeans und Hemden mit Aufdruck, wenn wir ausgehen, sind Bundfaltenhose, Hemd und Weste gefragt.“ Und keine Feier ohne diese herrlich bunten, schrecklich süßen, unwiderstehlichen Cupcakes, die auch Marilyn nicht vom Tellerrand gestoßen haben dürfte.