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Nazi Nummer eins

Er pöbelt und prügelt sich für die Bewegung: Eugen Holdinghausen ist ein Kreisleiter nach Hitlers Geschmack.

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© Stadtarchiv

Von Jens Ostrowski

In ganz Riesa hängen am 12. Juli 1937 die Hakenkreuzfahnen auf Halbmast. Es ist der Tag, an dem die Nazis auf dem Friedhof in Poppitz ihren Kreisleiter zu Grabe tragen. Eugen Holdinghausen (47) gilt als alter Kampfgefährte der Bewegung. Zu Lebzeiten folgt er dem Nationalsozialismus blind. Er ist einer, der keine Kompromisse macht. Einer ganz nach Hitlers Geschmack. Kein Wunder, dass auch der Führer einen Kranz zu Holdinghausens Beerdigung nach Riesa schickt. Sachsens Gauleiter Martin Mutschmann und mehrere Minister nehmen Abschied. Und auch viele NSDAP-Ortsgruppenleiter aus dem Kreis Großenhain stehen Spalier für ihren „Nazi Nummer eins“.

Die Mitgliedskarte von Eugen Holdinghausen aus der NSDAP-Zentralkartei, die im Bundesarchiv lagert, belegt, dass er bereits Mitte der 20er Jahre in die NS-Partei eingetreten ist.
Die Mitgliedskarte von Eugen Holdinghausen aus der NSDAP-Zentralkartei, die im Bundesarchiv lagert, belegt, dass er bereits Mitte der 20er Jahre in die NS-Partei eingetreten ist. © Bundesarchiv
Zuletzt wohnte er in der Bahnhofstraße 10 in Riesa.
Zuletzt wohnte er in der Bahnhofstraße 10 in Riesa. © Bundesarchiv

„Die Kreisleiter befanden sich nach Hitler und dessen Stellvertreter sowie dem Gauleiter an vierthöchster Position im Machtgefüge der Partei“, weiß der Großenhainer Ortshistoriker Kai-Uwe Schwokowski, der auch zu Holdinghausen geforscht hat. „Ihre Aufgabe war es, die nationalsozialistische Weltanschauung in der Bevölkerung zu verankern und zu sichern, die rassenpolitischen Grundsätze zu gewährleisten, parteiinterne und öffentliche Kundgebungen zu organisieren.“

Noch vor der Machtübernahme wird Eugen Holdinghausen 1932 NSDAP-Kreisleiter in Großenhain. Im Westerwald geboren absolviert der gelernte Tischler seinen Wehrdienst beim Ostasiatischen Marinedetachement in Peking. Anschließend zieht es ihn nach Gröditz, wo er einen Großteil seines Lebens verbringt und im Stahlwerk bis zum Oberschmelzmeister aufsteigt. „In diesem bedeutenden deutschen Stahlwerk wurde Eugen Holdinghausen zuerst zum Propagandisten der nationalsozialistischen Weltanschauung. 1925 bereits fand er den Weg in die NSDAP und wurde von da an einer der unermüdlichen Kämpfer für Adolf Hitler. Ort um Ort des Kreises Großenhain hat er (...) der Idee des Führers erobert“, huldigt ihn die NS-Presse nach seinem Tod.

Holdinghausen ist wahrhaftig ein Nazi der kernigsten Sorte. Er kämpft für die Bewegung, wird Ortsgruppenleiter der NSDAP Gröditz, ist als Redner Hans Dampf in allen Gassen. Seine braunen Reden müssen nicht selten durch Polizeigewalt beendet werden. Am 6. Januar 1932 schreibt das Volksblatt der SPD zu einem seiner Auftritte im Großenhainer Sachsenhof: „Der berüchtigte Nazi Holdinghausen aus Gröditz hatte in seiner bekannten brutalen Art kaum zehn Minuten gesprochen, als sich die Polizei schon genötigt sah, einzugreifen. Die SA-Leute und auch verschiedene Besucher der Versammlung aus den Mittelstandskreisen verübten hierauf einen ungeheuerlichen Tumult, der kaum zu überbieten war. Gegen die Polizei wurden sogar Stühle geworfen. Nur mit Mühe gelang es einem Polizeibeamten, ans Telefon zu kommen und ein bereitstehendes Überfallkommando herbeizurufen.“

Immer wieder kommt es im Kreisgebiet zu Auseinandersetzungen zwischen Nationalsozialisten, Kommunisten und Demokraten. Holdinghausen erhält Anfang der 30er Jahre mindestens 41 behördliche Redeverbote – und doch macht er weiter. Unter anderem verbietet ihm die Landshauptmannschaft im Januar 1932 mehrere Auftritte, weil er „unwahre und ehrenrührige Angriffe gegen Beamte der Stadtverwaltung Großenhain“ gerichtet habe.

Unter Hitlers Vasallen gilt dieses Verhalten als Kampfgeist. Und der wird belohnt. Im September 1932 entsendet die Partei Holdinghausen in den Berliner Reichstag. Dort pöbelt Holdinghausen weiter. Bei einer Massenschlägerei am 7. Dezember 1932 zwischen Nazis, Sozialdemokraten und Kommunisten – während der letzten Reichstagssitzung vor der Machtübernahme der NSDAP – mischt Holdinghausen kräftig mit. Er bricht sich dabei den rechten Fuß. „Beim Hinauswerfen der Kommunisten wurde ich von einem Wurfgeschoss getroffen und am Fuß verletzt“, schreibt er in einer Schadensanzeige an die Partei. Bei der Auseinandersetzung aber werden vor allem Abgeordnete der linken Fraktionen verletzt. Und Holdinghausen gibt an, dem Werfer schon ein „paar kräftige Ohrfeigen“ verpasst zu haben.

Auch in den eigenen Reihen geht er gegen Gegner erbarmungslos vor. Mitte 1932 entlässt er den Riesaer NSDAP-Ortsgruppenleiter, weil die „Ortsgruppe Riesa anderen Ortsgruppen gegenüber weit zurückgeblieben war“. Mehrere Parteigenossen protestieren dagegen. Darunter auch Richard Jordan aus Gröba. Holdinghausen fackelt nicht lange und schließt ihn kurzerhand aus der Partei aus.

Holdinghausen baut die Strukturen der Nazi-Partei im damaligen Kreis Großenhain – der sich von Radeburg bis Riesa erstreckt – mit aller Macht aus. In jeder Stadt, in jeder größeren Gemeinde gibt es bald NSDAP-Ortsgruppen.

„Als nach der Machtübernahme Riesas parteiloser Oberbürgermeister Dr. Alfred Scheider im April 1933 unter dem Druck der Nazis zurücktritt, übernimmt Holdinghausen das Amt bis August kommissarisch. „Er leitetet in diesen fünf Monaten eine Säuberungsbewegung innerhalb der Stadtverwaltung ein und besetzt neun Ämter mit Nationalsozialisten“, weiß Maritta Prätzel vom Riesaer Stadtmuseum. In dieser Zeit beginnen auch die als „Sicherheitsverwahrung“ deklarierten Verhaftungen kommunistischer und sozialdemokratischer Funktionäre.

Im ganzen Kreis werden politische Gegner ausgeschaltet, ihrer Existenz beraubt, zu hohen Haftstrafen verurteilt und in den Tod getrieben. Pfarrer Rudolf Stempel (57) aus Gröba wird ins KZ verbracht, weil er SA-Leuten den Zutritt zur Kirche verwehrt. Dort stirbt er am 19. Oktober 1936. In Großenhain wird der SPD-Vorsitzende und spätere Nachkriegsbürgermeister Otto Schröter trotz eines schweren Magenleidens in Schutzhaft genommen.

Unter Holdinghausen wird auch der Antisemitismus breitgetragen. Für Juden wird das Leben schon bald zur Hölle. So verliert der in Merzdorf lebende Schuhmacher Benjamin Grünblatt seine Werkstatt, weil sein Geschäft erst dem Vandalismus zum Opfer fällt und ihm dann entzogen wird. „Kein Mensch hat mir bis jetzt ein Wort gesagt, dass ich Jude sein soll. Ich kann nur sagen, dass ich mich nicht als Jude fühle. Heil Hitler!“, flehte Grünblatt die Ämter an. Erbarmen gab es nicht.

Unter Holdinghausen dürfen jüdische Kinder bald nicht mehr zur Schule gehen, werden jüdische Kaufhäuser wie das der Familie Lenczynski in der Riesaer Innenstadt mit judenfeindlichen Parolen beschmiert. „Man kann sagen, der Kreisleiter hat für den späteren haltlosen Judenhass, der bis in die Vernichtung führte, den Weg bereitet“, sagt Schwokowski.

Auch als Holdinghausen schwer krank wird, führt er so gut es geht, die Geschäfte der Partei weiter. „Trotz der Schwere der Krankheit hat er in zahllosen Besprechungen mit seinen engeren Mitarbeitern von seinem Krankenbett aus die Parolen des täglichen Einsatzes für sein Hoheitsgebiet ausgegeben“, heißt es im Nachruf. Ein letztes Mal zeigt sich Holdinghausen am 1. Juni 1937 in der Öffentlichkeit, als in der Stadtverwaltung Riesa nationalsozialistische Beigeordnete eingesetzt werden. Knapp sechs Wochen später stirbt der Kreisleiter an den Folgen der Krankheit in seiner Riesaer Wohnung in der Bahnhofstraße 10.

Aufatmen aber können die Gegner des Nationalsozialismus nicht. Mit Ernst Jahns steht schnell ein Nachfolger bereit, der den Kreis Großenhain und den Stadtkreis Riesa in den Krieg und somit in die Katastrophe führen wird.