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Nie mehr ohne Wurzelrudi

Drei Jahre lang testete die Grundschule in Eibenstock einheitliche Schulkleidung. Anfangs war die Skepsis groß. Inzwischen sieht man sich als Vorreiter.

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Von Henry Berndt (Text) und Thomas Kretschel (Foto)

Schon die Allerkleinsten werden eingefärbt. Gerade geboren, bekommen Babys in Eibenstock blaue und rote Einheitslätzchen verpasst. Die können die Eltern gemeinsam mit dem Begrüßungsgeld im Rathaus abholen. Auf den Lätzchen ist zu lesen: „Iech bie e‘ klaaner Erzgebirger“. Und natürlich darf der aufgestickte Wurzelrudi nicht fehlen – mit der Rassel in der Hand.

Der putzige Gnom mit Filzhut und Rauschebart geht zurück auf eine Marketing-Idee aus den 90er-Jahren, die sich mit der Zeit verselbstständigt hat. Heute ist der Wurzelrudi das Maskottchen der 6.000-Einwohner-Stadt, und das ist nur schwer zu übersehen. Er steht an den Ortseingängen, an Aussichtspunkten, grüßt von Flugblättern, Buchtiteln und Magerbitterflaschen. Sogar eine Erlebniswelt ist nach ihm benannt. „Das war nie so geplant“, sagt Uwe Staab, seit mehr als 20 Jahren Bürgermeister in Eibenstock, „aber die Kinder haben ihn einfach lieb gewonnen“.

Majestätisch thront das Rathaus auf dem Rosinenberg und blickt hinunter auf die gelbe Fassade der Grundschule. Deren Fenster sind mit Blumen und bunten Schmetterlingen beklebt. Vor dem Schulhaus rauscht der Rehmerbach unter kleinen Brücken hindurch. Bald sollen die 160 Schüler auch einen richtigen Schulhof bekommen mit Spielplatz, Kletterwand, Tischtennisplatz. Wahrscheinlich wird auch der Wurzelrudi irgendwo sitzen.

Auch Annabell mag den Kerl, aber nicht nur deswegen trägt die Neunjährige ihn jeden Schultag auf ihrem roten Shirt mit sich herum. An der Grundschule in Eibenstock ist Einheitskleidung seit drei Jahren Pflicht. Zur Garderobe gehören T-Shirt, Poloshirt, Sweatshirt, Fleecejacke, Strickmütze und Basecap. Die Mädchen tragen Rot, die Jungen Blau, aber da ist man nicht so streng. Für Hosen oder Röcke gibt es keine Vorschriften, auch für die Sportkleidung nicht. Jedes Kind bekommt zur Schuleinführung ein komplettes Starterpaket im Wert von 32 Euro kostenlos. Neue Kleidungsstücke müssen die Eltern selbst zahlen.

Als die Stadt im Jahr 2010 den dreijährigen Versuch mit der Schulkleidung startete, fühlten sich viele Eltern überfahren. Man sei doch nicht mehr bei den jungen Pionieren, hieß es. Die Kinder würden als Werbeträger missbraucht. Dennoch wurde der Einheitslook eingeführt, initiiert von Bürgermeister Staab und dem früheren Schulleiter Günter Fahsel. Eine Arbeitsgruppe aus Stadträten, Lehrern, Eltern und Schülern begleitete das Projekt.

Drei Jahre später existiert die Arbeitsgruppe nur noch auf dem Papier. Sie sei schlicht nicht mehr nötig gewesen, heißt es, nachdem Auswahl und Vertrieb der Einheitsmode geklärt und alle vier Jahrgänge eingebunden waren.

Vor Kurzem entschied der Stadtrat einstimmig: Das Projekt wird auf unbestimmte Zeit fortgesetzt. „Die Einheitskleidung war eine mutige, aber gute Entscheidung“, sagt Staab. Auch finanziell. Seine Gemeinde habe bislang Kleidung im Wert von 10.000 Euro gekauft – deutlich weniger als anfangs kalkuliert.

Als Ulrike Viertel 2011 als Schulleiterin nach Eibenstock kam, wurde sie vor vollendete Tatsachen gestellt. „Ich hatte die Diskussion in der Zeitung verfolgt und konnte mich gut mit der Entscheidung anfreunden“, sagt sie. Auch die größten Elternproteste gingen an ihr vorbei. Seit sie an der Schule ist, habe sie kein einziger böser Brief oder Antrag auf Freistellung von der Schulkleidung erreicht. Das mag sicher auch daran liegen, dass sie keinen Schüler mit einem Tadel nach Hause schickt, wenn er mal ohne Wurzelrudi erscheint. „Ein, zwei Ausreißer gibt es immer“, sagt sie. Vor allem die Mädchen aus der Vierten erlägen hin und wieder den glitzernden Versuchungen der Modewelt.

Annabell trägt die Schulkleidung gern. Ihre Klasse 3a hat gerade Kunstunterricht, es ist die letzte Stunde für heute. Die Schüler sollen mit bunten Wachsmalstiften auf schwarzen Bögen ihre Traumvilla malen. Auch Bilder aus Zeitschriften können sie ausschneiden und dazukleben. Einige malen Hunde und Bäume. Annabell hat sich eine Blume auf den Handrücken gemalt statt auf ihren Bogen. Überraschenderweise hat ihr T-Shirt noch keine bunten Flecke, dabei trägt sie nicht mal eine Schürze über ihrem Wurzelrudi-Shirt. Gleich zu Hause wird sie sich umziehen, bevor sie zum Spielen geht. Das ist gar nicht mal so selbstverständlich. „Einige Eltern haben Mühe, dass ihre Kinder die Schulkleidung nachmittags wieder ausziehen“, sagt Bürgermeister Staab und kann seine Freude darüber nur schwer verbergen. „Ich bin froh, dass es die Schüler selbst waren, die das Projekt zum Erfolg gemacht haben. Gegen ihren Willen würde es nicht gehen.“

Eine Schülerin aus einer sehr christlichen Familie, die von ihren Eltern vom Tragen der Schulkleidung freigestellt wurde, zieht sie nun trotzdem regelmäßig an – ganz freiwillig. Der achtjährige Jannik mag am liebsten den blauen Pullover, „weil der nicht kratzt“. Annabell würde sich freuen, wenn es auch noch ein Kleid gebe. Die Neunjährige kennt sogar schon den vielleicht wichtigsten Grund, warum an ihrer Schule alle dasselbe tragen: „Jetzt sagt keiner mehr: ,Du siehst ja hässlich aus‘“.

In die Erwachsenensprache übersetzt heißt das bei Bürgermeister Staab: Einheitsmode mindert das Markendenken. Es ist eines der klassischen Argumente für die Schulkleidung. Die anderen lauten: Schulkleidung fördere den Zusammenhalt der Schüler und die Identifikation mit der Schule und dem Ort. Nicht zuletzt fördere sie die Disziplin. „Wir sind doch heute nur noch lasch und locker in der Erziehung“, sagt Staab. „Deutsche Tugenden lösen sich auf.“ Die Schulkleidung könne helfen, alte Werte wieder zu stärken.

Solch ein Plädoyer freut auch die Stickerei Funke. Gleich neben der Schule produziert das Traditionsunternehmen mit fast hundertjähriger Geschichte die Schulkleidung für Eibenstock. In einem unscheinbaren Flachbau lassen bis zu zehn Meter lange Nähmaschinen die Fäden wirbeln, dass jeder Marionettenspieler erblassen müsste. Auf einem Flyer wirbt die Firma mit „Trendy Schulbekleidung“: „Der einheitliche Look in stylischer Kleidung stärkt das Selbstbewusstsein Ihrer Schüler“, ist da zu lesen. Zu DDR-Zeiten wurden hier die FDJ-Abzeichen auf die Blusen gestickt. Heute macht der Anteil der Schulkleidung etwa zehn Prozent der Gesamtproduktion aus, wie Mitarbeiterin Anke Scheibner sagt. Tendenz steigend. Sechs Schulen in Sachsen beliefert die Stickerei inzwischen mit Kleidung – zwei mehr als vor drei Jahren.

Während Uniformen in Großbritannien und vielen Ländern des Commonwealths seit Jahrhunderten nicht aus dem Schulalltag wegzudenken sind, gibt es in Deutschland keine positiv besetzte Tradition. Dennoch wurde auch in Sachsen an mehreren Schulen freier Träger die Schulkleidungspflicht eingeführt – aber neben der Grundschule Eibenstock nur noch an einer weiteren staatlichen Einrichtung. Die Mittelschule Zwönitz, nur 30 Kilometer von Eibenstock entfernt, entschied sich vor vier Jahren zu diesem Schritt. Bisher sind die Klassenstufen fünf bis acht eingebunden. In zwei Jahren sollen sie alle Schüler tragen. Wer sich nicht daran hält, riskiert eine schlechte Ordnungsnote.

Strafen wie diese gibt es in Eibenstock nicht. „Die Schulkleidungspflicht bleibt eine gesetzliche Grauzone“, gibt Bürgermeister Staab zu. Mit Bußgeldern oder Tadeln würde die Schule schlimmstenfalls Rechtsstreitigkeiten mit Eltern riskieren, fürchtet er. Oder mit der Bildungsagentur. Während die frühere Bundesbildungsministerin Annette Schavan noch Sympathie für die Einführung einheitlicher Schulkleidung gezeigt hatte, lehnt die Sächsische Bildungsagentur eine verpflichtende Uniformierung der Schüler strikt ab. „Das Recht auf Freiwilligkeit muss in jedem Falle gewahrt bleiben“, sagt Sprecherin Michaela Bausch. „Schüler sollen sich keinem Gruppenzwang unterworfen fühlen.“ Immerhin verspricht Artikel 2 des Grundgesetzes ja die freie Entfaltung der Persönlichkeit.

Bürgermeister Staab kennt die Meinung der Bildungsagentur. Dennoch sagt er: „Ich würde mir wünschen, dass andere Schulen sich ein Beispiel an uns nehmen.“ Bevor er aber auf Werbetour in Sachsen gehen kann, muss er in seiner eigenen Stadt weiter für die Idee trommeln. Vor einem Jahr wurde das Örtchen Sosa eingemeindet und mit ihm eine zweite Grundschule. Auf einem Elternabend stellte Staab die Schulkleidung auch dort vor – und bekam „sehr zurückhaltende Reaktionen“, wie er sagt. „Vielleicht konnte ich die Vorteile nicht klar genug rüberbringen.“ Vorerst dürfen die Schulkinder hier weiterhin mit Adidas und Micky Maus zum Unterricht kommen. Mal sehen, wie lange noch. Der Wurzelrudi macht sich schon mal hübsch.