Geht es abwärts mit der Demokratie?

Allgemein in Erinnerung ist das Schauspiel der endlosen, gequälten Regierungsbildung 2017/18. Wie kam es dazu? Unser Parteiensystem ist komplizierter geworden, eine Folge unzureichender Bereitschaft der Parteien, Probleme der Menschen wahrzunehmen und auf sie einzugehen. In der Politikwissenschaft spricht man von mangelnder Responsivität. Sie spielte schon eine Rolle, als die rot-grüne Regierung unsensibel Hartz IV als „Basta“-Reform herunterregnen ließ – mit der Folge, dass sich 2005 die Linke in den Westen ausdehnen und in den Bundestag einziehen konnte.
Besonders eklatant trat eine mangelnde Responsivität des ganzen Parteiensystems in Sachen Zuwanderung zutage. Bereits 2010 bestand eine irritierende Diskrepanz: Bei jeder Partei zeigten sich die Parteianhänger deutlich kritischer gegenüber außereuropäischer Zuwanderung als die jeweiligen Abgeordneten. Obwohl bereits die AfD existierte, setzten 2015 alle Bundestagsparteien noch einen drauf und stellten sich geschlossen hinter die Flüchtlingspolitik Merkels, unterstützt durch das Medienbild eines allgemeinen Konsenses für die „Willkommenskultur“. Doch zuerst Umfragen, dann regionale Wahlergebnisse enthüllten jenes als Täuschung, und 2017 konnte die AfD im Bundestag einziehen.
Eine Koalition mit der Linken oder, nachdrücklicher noch, mit der AfD schließen nun alle anderen Parteien aus – sei es aus Zweifeln an deren Demokratietreue, wegen derer sachlichen Positionen oder um sie wieder zum Verschwinden zu bringen. Wie immer die Motive, jeder ist natürlich frei bei der Partnerwahl. Unvermeidlich aber hat die Ausgrenzung zur Folge, dass sich das Parteiensystem zunehmend schwerer tut, seine zentrale Funktion in der parlamentarischen Demokratie zu erfüllen: eine mehrheitsgetragene, handlungsfähige Regierung hervorzubringen. Auch nach der Landtagswahl in Sachsen Ende 2019 wird sich voraussichtlich dieses Problem stellen.
Je höher der Anteil der Ausgegrenzten, desto stärker der Zwang zu unnatürlichen, uneinigen Koalitionen, deren gequälte Kompromisse ihre Wähler enttäuschen, zumal Oppositionsparteien von allen Seiten mit profilierteren Angeboten konkurrieren – sozial- und wirtschaftspolitisch die Linke vom linken, die FDP vom rechten Extrempol aus, sozio-kulturell die Grünen vom linken, die AfD vom rechten Pol. Seit 2005 haben wir ungewollte Große Koalitionen erlebt. Bei schlechterer Wirtschaftslage dürfte sich die prekäre Konstellation verstärkt zulasten von Regierungsparteien auswirken. Die Krise des Parteiensystems würde akut. Ahnungsvoll scheute daher 2017/18 die SPD vor weiterer Regierungsbeteiligung, die FDP vor einer inhomogenen „Jamaika“-Koalition zurück.
Sicherlich litte auch der Charme der Demokratie. Mahnend vor Augen steht das Schicksal der Weimarer Republik, die fast nur durch Minderheitsregierungen (samt Tolerierungen) und durch Große Koalitionen regierbar war, um schließlich in einer politischen Katastrophe zu enden. Die Politik der Ausgrenzung ist also eine risikoreiche Option. Gibt es, wie die öffentliche Diskussion suggeriert, zu ihr keine Alternative? Gegenüber der Linken scheint die Ausgrenzung langsam zu erodieren. Tatsächlich, die Linke ist nicht die putschende KPD der Weimarer Zeit, viel weniger noch die AfD der NSDAP ähnlich. Gewiss gibt es problematische Flecken, bei der AfD von einer kritischen Öffentlichkeit ausgeleuchtet (weniger bei der Linken).
Sinnvoll erscheint, die AfD als eine rechtspopulistische Partei einzuordnen, wie sie seit Langem in Demokratien Westeuropas bestehen und ähnliche Positionen haben. Die Reaktion auf eine solche Partei ist von Land zu Land unterschiedlich: Neben dauerhafter Ausgrenzung (so in Schweden) steht ihre akzeptierte Tolerierung einer Regierung (Dänemark) bis zur Rolle als Koalitionspartner (so in Norwegen, Finnland und Österreich). Keine dieser Umgangsvarianten hat zur Gefährdung der Demokratie, allerdings ebenso wenig zum Verschwinden der rechtspopulistischen Partei geführt – wohl aber zu Sachkompromissen, mancher Entzauberung populistischer Positionen und handlungsfähigen, mehrheitsgetragenen Regierungen. Ein einfaches Rezept gibt es nicht, aber doch alternative Strategien kritischer Integration, die weniger risikoreich sein könnten als dauerhafte Ausgrenzung.
Warum die EU keine Demokratie ist
Die Europawahl im Mai dieses Jahres richtet den Blick auf ein zweites aktuelles Problemfeld unseres politischen Systems: Solange die Europäische Union nur über begrenzte Zuständigkeiten verfügte und einstimmig entschied, war das für die Demokratie der Mitgliedstaaten ohne große Bedeutung. In den letzten 20 Jahren aber hat sich schrittweise eine geradezu revolutionäre Veränderung vollzogen: Die EU erhielt mit dem Gemeinsamen Binnenmarkt wirtschaftspolitische Kompetenzen, dazu Währungs- und Umweltpolitik, Zuwanderung, aber auch Berufsqualifikationen, Verkehr, Außengrenzen, innere Sicherheit – eine Verschiebung, die fortdauert.
In all diesen Themenfeldern haben Bundestag, Bundesrat und Landesparlamente ihre gesetzgeberischen Rechte verloren. Die Situation ist für den Bürger etwas verhüllt, da die EU zumeist nur „Richtlinien“ (jedoch alles Relevante regelnd) erlässt, die dann als nationale Gesetze verkleidet umzusetzen sind. Dem Bundestag bleibt somit bei 30 bis 40 Prozent der Gesetze nur die Rolle des Handlangers. Darüber hinaus bricht EU-Recht jedes nationale Recht, selbst das Grundgesetz, und EU-Gerichtsurteile entscheiden zahlreiche sozial- und steuerpolitische Fragen. Alles einbeziehend, hat die Bundesregierung 2009 den Anteil des geltenden Rechts, der auf europäischen Ursprung zurückgeht, sogar auf 80 Prozent (wohl zu hoch) geschätzt.
Bundestag und Bundesrat wirken daher weithin wie ausgehöhlte Fassaden. Die Bundesbank ist zur ausführenden Behörde herabgesunken, das Bundesverfassungsgericht hat sich in die Rolle eines untergeordneten Gerichts fügen müssen. Das politische System, unter dem die Deutschen leben, ist weithin nicht mehr die Demokratie des Grundgesetzes.
Bietet dafür die Europäische Union angemessene Mitwirkungschancen? In ihr hat die Stimme des Wählers je nach Nationalität verschiedenes Stimmgewicht, die des deutschen das geringste, nur ein Achtel des Luxemburger Wählers; das EU-Parlament darf nur über Vorlagen der Kommission, quasi ihres Vormunds, entscheiden; in der EU-Kommission hat jeder Mitgliedstaat, Malta wie Deutschland, je einen Sitz, desgleichen im Europäischen Gerichtshof je einen Richter; im Rat der EU, Vertretung der nationalen Regierungen, gilt abgestuftes Stimmgewicht zugunsten der Kleinen. Das allgemeine Demokratiedefizit der EU wirkt sich daher besonders zuungunsten der Deutschen aus. Ihre einzige Macht, eine Vetoposition im EU-Rat gemeinsam mit nordeuropäischen Staaten ähnlicher Interessenlage, geht mit dem Brexit Großbritanniens verloren.
Die EU ist keine Demokratie. Solange Gemeinsamkeit primär mit der Nation empfunden wird, kann es die EU auch nicht sein. Die Konsequenz, die Politikwissenschaftler und das Bundesverfassungsgericht daraus ziehen, lautet, dass die EU nicht beliebig viel Zuständigkeiten übernehmen dürfe. Zu mehr fehle es ihr an demokratischer Legitimation.
Man kann demgegenüber mit guten Gründen argumentieren, die Probleme der Gegenwart erforderten größere politische Einheiten als Nationalstaaten – wie einst in der Antike anstelle der Polis den Flächenstaat. Wenn man demgemäß eine fortschreitend engere Union ansteuert, muss man allerdings eingestehen: Die großen Zeiten der Demokratie sind vorbei, der Wähler verliert viel an Einfluss. Mit dem Bedeutungsrückgang der Wahl geht auch viel an politischer Gleichheit verloren. Das Ergebnis wäre: Freiheitliche Verhältnisse, aber verkümmerte Demokratie. Die Alternative könnte in einer Union bestehen, die nationalen Demokratien genügend Kompetenzen lässt, um als entscheidend für die Lebensverhältnisse ihrer Bürger gelten zu können. Das sind Alternativen, zwischen denen zu entscheiden ist. Je mehr Europa, desto weniger Demokratie – man entgeht, jedenfalls für unsere Zeit, diesem Dilemma nicht.
Man könnte weitere neue Schwächen der deutschen Demokratie aufzählen, etwa den überdurchschnittlichen Rückgang der Wahlbeteiligung unterer Einkommensschichten, also Züge sozialer Exklusivität der Demokratie. Aber: Mit Mängeln, mit chronischen Schwächen und Qualitätsverlusten leben auch andere Demokratien. Mehr noch: Entwicklungen können auch aufgehalten, ihre Richtung verändert werden – gerade in Demokratien mit ihrer Fähigkeit zur Selbstkorrektur.
Prof. Dr. Wolfgang Rudzio, geboren 1935 im ostpreußischen Insterburg (heute russ. Tschernjachowsk), lehrte von 1973 bis 2000 Politikwissenschaft an der Universität Oldenburg. Generationen von Studenten in ganz Deutschland lernten nach seinem Standardwerk „Das politische System der Bundesrepublik Deutschland“, das gerade in der zehnten, aktualisierten Auflage im Verlag Springer VS erschienen ist, 546 Seiten, 24,99 Euro.
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