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Noten nach Maß für den Opernball

Der Döbelner Dieter Rettig ist Notenbibliothekar der Semperoper. Mit Bleistift und Radiergummi sorgt er für einen homogenen Klang.

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© c by Matthias Rietschel

Von Dagmar Doms-Berger

Er steht in keinem Programmheft, auf keiner Bühne, bekommt nie Applaus und gehört doch zu den wichtigen Leuten der Sächsischen Staatskapelle Dresden, eines der führenden Orchester der Welt. Dieter Rettig ist Notenbibliothekar an der Semperoper.

Dieter Rettig spielte lange im Orchester des Döbelner Theaters Posaune. Jetzt arbeitet der 62-Jährige im Notenarchiv der Staatskapelle Dresden.
Dieter Rettig spielte lange im Orchester des Döbelner Theaters Posaune. Jetzt arbeitet der 62-Jährige im Notenarchiv der Staatskapelle Dresden. © c by Matthias Rietschel

Ohne ihn gäbe es reichlich schräge Töne auf dem Semperopernball am nächsten Freitag. Seit Wochen organisiert, stapelt und ergänzt der Döbelner die Noten für den renommierten Opernball. Er versorgt das Orchester, den Chor sowie die Solisten mit den gewünschten Materialien. Sein Aktionsfeld ist das Büro im Werkstättengelände der Staatsoper am Zwingerteich, sein Aktionsradius zieht sich bis nach Amerika.

In den hohen Räumen der Notenbibliothek stapeln sich überall Bücher; auf Tischen, in deckenhohen Regalen und auf Stühlen. Das sachlich eingerichtete Büro mit den großen Fenstern strahlt eine angenehme Ruhe aus. Scheinbar. Denn je näher der Opernball rückt, desto mehr steigt die Spannung. Die Werke werden für jede Aufführung extra aufbereitet. Für alle Instrumente müssen die Notenvorlagen an die jeweilige Aufführung angepasst und mit den Wünschen des Dirigenten versehen werden. Die Streicher bekommen die Auf- und Abstriche eingezeichnet, Hinweise auf Dynamik, Reihenfolge und mehr müssen ergänzt werden. Alles per Hand. Die Beweisstücke unermüdlicher manueller Zusätze liegen auf dem Nachbartisch: Dort tummeln sich unzählige Bleistiftstummel und abgewetzte Radiergummis. Die Hinweise werden ausschließlich mit Bleistift geschrieben, um sie bei Bedarf wieder entfernen zu können.

„Der Stapel dort ist bereits fertig“, sagt Rettig und zeigt auf die Sammlung auf dem Beistelltisch. Ob dies wirklich so ist, wird sich noch zeigen. Zurücklehnen kann sich der 62-Jährige erst, wenn die Generalprobe vorbei ist. „Bis dahin kriegt man manchmal Herzrasen“, sagt der Döbelner. Denn meist werden noch kurzfristig Änderungen gewünscht, die dann unter Zeitdruck eingearbeitet werden. Dann heißt es: Alles geht von vorn los, aber mit doppeltem Tempo. Die eingezeichneten Akzentuierungen werden fein säuberlich ausradiert und die neuen Hinweise ergänzt. Das ist konzentrierte Fleißarbeit.

Bei diesen Tätigkeiten kommt Dieter Rettig zugute, dass er ein Mann vom Fach ist. Er studierte an der Dresdner Hochschule für Musik Posaune und spielte 20 Jahre im Orchester des Theaters Döbeln. Dies hält auch seine Chefin Agnes Thiel für vorteilhaft. „Als ehemaliger Musiker ist er mit allen Wassern gewaschen und kann auf alle Eventualitäten reagieren“, sagt sie. Man müsse Musiker, kreativer Bastler und ein guter Organisator sein, so Rettig. Während er über seine nächsten Arbeitsschritte berichtet, klingelt das Telefon. Die nächste Änderung wird angekündigt. Die angezeichneten Sprünge sind nicht mehr gewünscht. „Jetzt kann ich wieder zwei Tage radieren“, sagt er und legt das Notenmaterial zurück auf den Arbeitstisch.

Richtig aufwendig sind Noten fürs Ballett. Kein Ballett tanzt ein komplettes Werk des Meisters. Zum diesjährigen Opernball zeigt das Ballett eine Choreografie zu einer Reprise aus dem Schwanensee. Aus dem Gesamtwerk werden lediglich drei Nummern getanzt. Damit die Musiker am Ende keine dicken Bücher auf dem Pult verwalten müssen, musste Rettig die einzelnen Notenabschnitte kopieren, scannen und wieder zusammenfügen. Eine Puzzlearbeit, meint er. Die Arbeit eines Notenbibliothekars fängt bereits damit an, irgendwo auf der Welt die passenden Noten zum Spielplan aufzutreiben. „Wir arbeiten mit renommierten Verlagen weltweit zusammen. In Amerika haben wir einen Verlag, der kurzfristig reagieren und uns fast immer helfen kann.“ Manchmal gestaltet sich die Beschaffung verzwickt und verlangt Organisationstalent und Verhandlungsgeschick.

Die Nationalhymne von Senegal für den diesjährigen Opernball ist so ein Beispiel. „Zunächst habe ich in der Botschaft angerufen“, sagt Rettig. Die per Hand geschriebene Vorlage erwies sich jedoch als untauglich. Eine Nachfrage beim Bundeswehrorchester, das sämtliche Nationalhymnen vorrätig hat, brachte auch nicht weiter. Die Partitur sei für 50 Bläser gesetzt und für ein Sinfonieorchester nicht verwendbar. Die Suche geht weiter. Rettig bleibt ruhig. Er weiß, dass es die Hymne irgendwo geben muss.

Im Laufe seiner Tätigkeit hat er weltberühmte Dirigenten kennengelernt. Das macht schon ein wenig stolz. Sir Colin Davis, Zubin Mehta, Nikolaus Harnoncourt und natürlich den amtierenden Chefdirigenten Christian Thielemann.

Die größte Katastrophe wäre das Fehlen einer Stimme. Das ist zum Glück noch nicht passiert. Das Schönste sei, wenn negative Kommentare ausbleiben. Bevor er mit Agnes Thiel die Noten für die nächsten Konzerte der Staatskapelle vorbereitet, wird er auch beim diesjährigen Opernball dabei sein. Allerdings hinter der Bühne. „Wir passen auf und hoffen darauf, dass nichts geändert wird“, sagt Rettig und ist gespannt auf die Generalprobe.