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Pirnas verkehrte Welt

In einem Bürgerhaus zeigt sich jetzt eine 500 Jahre alte, ungewöhnliche Wandmalerei. Eine Sensation, sagen Fachleute.

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© Norbert Millauer

Von Thomas Möckel

Pirna. Ein Jäger, nackt und gefesselt, liegt über offenem Feuer. Ein Tier, vermutlich ein Dachs, dreht genüsslich den Grillspieß, ein Hirsch überwacht den Garprozess. Nebendran liegt ein anderer Waidmann, gut durchgebraten, liebevoll auf Porzellan drapiert. Ein anderer Hirsch schneidet ihm gerade den rechten Oberschenkel ab, während Affe und Wolf genüsslich die Hände des Jägers verspeisen. Die ungewöhnliche Menüfolge entlockt dem Diplom-Restaurator und Bauforscher Dirk Böhme regelmäßig Begeisterungsstürme. „Es ist eine historisch einmalige Besonderheit, ein wahres Denkmal-Juwel“, schwärmt der Fachmann aus Dresden.

Das sanierte Wandbild im Festsaal des Marienecks in Pirna beginnt aber mit einer gewöhnlichen Jagdszene, auf die Hauseigentümer Peter Groner (Mitte) zeigt.
Das sanierte Wandbild im Festsaal des Marienecks in Pirna beginnt aber mit einer gewöhnlichen Jagdszene, auf die Hauseigentümer Peter Groner (Mitte) zeigt. © Norbert Millauer
Das Bild zeigt den heiligen Christophorus, der wegen der niedrigen Decke nur bis zu Hüfte sichtbar ist.
Das Bild zeigt den heiligen Christophorus, der wegen der niedrigen Decke nur bis zu Hüfte sichtbar ist. © Norbert Millauer
Grausame Welt einmal anders: Die Tiere grillen einen Jäger über offenem Feuer.
Grausame Welt einmal anders: Die Tiere grillen einen Jäger über offenem Feuer. © Norbert Millauer

Was ihn so entzückt, ist eine ergreifende Bildergeschichte, die – in matten Farben getüncht – bislang beinahe 400 Jahre im Verborgenen ruhte. Im Haus Marieneck am Pirnaer Markt findet sich im Festsaal im Obergeschoss eine Wandmalerei, die ihresgleichen sucht. Dort, wo man einst eine kleine Zweiraumwohnung eingezwängt hatte, ist auf einer Wandfläche von 45 Quadratmetern ein Bilderfries mit ungewöhnlichen und seltenen Motiven erhalten. Laut Böhme entstand die Wandmalerei vermutlich Ende des 15. oder Anfang des 16. Jahrhunderts und wurde bereits Anfang des 17. Jahrhunderts durch einen weißen Anstrich wieder abgedeckt. Inzwischen ist das Erhaltene wieder sichtbar, allerdings fehlt bei nahezu allen Motiven der obere Teil. Dieser Schwund ist historisch baubedingt. Der ursprüngliche Raum wurde um 1680 in einen Neubau integriert. Um unterschiedliches Geschossniveau zu vermeiden, ließ der Bauherr damals den Fußboden um etwa einen Meter absenken und eine neue Decke einziehen. Diese schneidet nun den oberen Teil der Malerei ab, schmälert aber nicht deren Besonderheit.

Prozession mit Tierkapelle

Was die Wandbilder so einzigartig macht, sind deren aneinandergereihte Szenen. Von roten Bändern umrahmt, ist an der Südwand eine mittelalterliche Stadt zu sehen, von der eine Jagdgesellschaft zu Fuß und zu Ross aufbricht. Die angrenzende Wand zeigt die Jäger in einem Wald, Tiere fliehen vor dem nahenden Unheil. In einem Baum sitzt ein kleiner roter Kobold, der die Trommel schlägt. Er ist offenbar der Auslöser dafür, dass sich die Geschichte umkehrt. Auf einmal jagen die Tiere die Jäger. Auf einem weiteren Bild tragen Bär und Hirsch eine Stange, an der ein gefangener Waidmann hängt. Andere Tiere tragen die Waffen der Jäger. Angeführt wird die Prozession von einer Tierkapelle mit mittelalterlichen Instrumenten. Die Bilder enden damit, dass sich die Vierbeiner menschliche Gaumenfreuden zubereiten. Dem Bilderfries gegenüber befindet sich noch ein Bildnis des heiligen Christophorus, Schutzpatron der Reisenden, der Menschen vor einem unvorbereiteten Tod schützen soll.

Die Bildfragmente zählen zum Motiv der „Verkehrten Welt“, dessen Ursprünge bis ins alte Ägypten zurückreichen. Im Mittelalter entwickelten sich derartige Szenen zu frühen Karikaturen. Mit grotesken und absurden Zeichnungen prangerten die Pinselkünstler die herrschenden Verhältnisse an. Die gejagten Jäger sind quasi eine Urform der Sozialkritik.

Dergleichen findet sich in näherer Umgebung nicht noch einmal . Die spätmittelalterliche Ausmalung des Festsaals im Marieneck sei laut des Landesamtes für Denkmalpflege einzigartig für Sachsens Kulturlandschaft. Es ist einer der wenigen bürgerlichen Wohnräume, in dem sich derart umfängliche Bildzyklen weltlicher Prägung erhalten haben. So sensationell wie die Zeichnungen selbst war auch deren Entdeckung.

Restauratoren müssen mehr als 10 000 Arbeitsstunden aufbringen

Als Peter Groner das Haus Markt 20 im Jahr 2008 kaufte, erwarb er eine Ruine. Die Substanz des Gebäudes war äußerst mürbe und fragil. Als Bauforscher Dirk Böhme das Objekt vor der Sanierung bauarchäologisch untersuchte, entdeckte er im Haus ein sehr altes, inzwischen in das Hauptgebäude integriertes Haus. Darin befand sich, verdeckt von Trennwänden und Deckenverschalungen, das historische Kleinod.

Nicht weniger abenteuerlich als die Entdeckung verlief auch die Rekonstruktion. Schon zu Beginn der Sanierung fielen Nordgiebel und ein Teil der Hoffassade in sich zusammen, die Ursache ist bis heute unklar. Auch die Außenwand zur Töpfergasse drohte herabzustürzen, sie war nur mithilfe mehrerer Stahlanker im Zaum zu halten. So erscheint es wie ein Wunder, dass die Malereien heute noch zu bestaunen sind.

Ein Team von bis zu zehn Restauratoren, angeleitet von den Diplom-Restauratorinnen Anja Romanowski und Lydia Wiedemann, benötigte fünfeinhalb Jahre, um die Bilder ans Licht zu fördern. Manchmal schafften es die Fachleute, pro Tag lediglich eine Fläche von 20 mal 20 Zentimetern freizulegen –  so behutsam mussten sie vorgehen. Mehr als 10 000 Arbeitsstunden verbrachten die Spezialisten –  sitzend, gebückt, liegend – in dem Festsaal. Mittels der sogenannten Strichretusche machten sie verblichene Stellen wieder sichtbar – mehr als zehn Millionen Striche malten sie sorgfältig auf die Wände. Das ist teuer.

Rund 500 000 Euro ließ sich Peter Groner allein die Rekonstruktion des Wandbildes kosten. Das Bundesministerium für Kultur, die Deutsche Stiftung Denkmalschutz und die Stadt Pirna unterstützen das Projekt mit Fördermitteln. Obwohl saniert, bleiben die Bilder der Allgemeinheit auch künftig weitgehend verborgen. Der Festsaal ist die meiste Zeit verschlossen. Groner könne sich allenfalls vorstellen, den Raum ab und an für repräsentative Zwecke zu öffnen. Eine dauerhaft kommerzielle Nutzung, beispielsweise für Feiern, schließt er allerdings aus – dafür seien die Wandbilder einfach zu wertvoll.