Die verrückte Geschichte vom Rennsteig-Rekordläufer

Alles beginnt im Herbst 1974 an der Uni Leipzig mit wöchentlich zweimal zehn Kilometern. Da ahnt Wolfgang Nadler noch nicht, dass er ein halbes Jahr später zu seinem ersten Rennsteiglauf über 82 Kilometer antritt.
Bis dahin joggte der Delitzscher nebenbei, 3.000 Meter schaffte er in zehn Minuten. „Das Studium war der Wendepunkt. Da ging es richtig los“, sagt Nadler. Er meldet sich bei der Leichtathletik-Gruppe an. Von seinem ersten Rennsteiglauf erfährt er erst kurz davor, nur ist von einer Leistungswanderung über 50 Meilen die Rede. „Keiner wusste genau, wie, nur wo: am Rennsteig. Ich habe mich als Letzter angemeldet, da war keine Vorbereitung mehr möglich“, erzählt er.
Startnummer 1020 ist seine. „Ich bin vorher noch nie einen Marathon gelaufen, nicht mal einen halben“, sagt Nadler. Und dann das! Am 9. Mai 1975 erleben beide, der Rennsteiglauf und Nadler, ihre Wettkampf-Premiere. „In Friedrichroda ging es nachts um elf zum Heuberg, und um eins war Start. Es war nicht allen bekannt, dass jeder zumindest eine Taschenlampe mitbringen sollte“, sagt Nadler.
Einige Läufer verlieren ihre Schuhe im Schlamm
Das Bild von der Lichterkette beim einzigen Start im Dunkeln hat sich ihm eingeprägt. „Diese besondere Atmosphäre am Rennsteig vergisst man nicht“, sagt er und erzählt von Pfützen auf der Panzerstraße am Heuberghaus und dass manche Teilnehmer sogar die Schuhe im Schlamm verloren. Nach 60 Kilometern bekommt Nadler erste Krämpfe, dabei sind es noch 22 Kilometer bis nach Neuhaus am Rennweg. „Wir hatten unterwegs erfahren, dass der Erste schon im Ziel war. Da habe ich auch gedacht: Nie wieder so ein Blödsinn!“
Doch der Gedanke ist nur von kurzer Dauer. „Am nächsten Tag wollte ich gleich wieder los“, sagt Nadler – und ist seitdem jedes Jahr am Start gewesen. Mit 45 Teilnahmen ist der 68-Jährige der Rekordläufer vom Rennsteig, zusammen mit einem Berliner. Und immer ist Nadler die lange Ultra-Distanz gelaufen. Fünfmal möchte er den Supermarathon, also die 73,9 Kilometer von Eisenach nach Schmiedefeld, noch absolvieren. Mindestens! „Ich laufe so lange, wie es geht und mir Freude macht“, sagt der ehemalige Sonderschullehrer.

Und diesen Samstag, wenn der Rennsteiglauf aufgrund der Corona-Bestimmungen ausfallen muss? Läuft Nadler trotzdem. Die Veranstalter haben die 15.000 angemeldeten Teilnehmer aufgerufen, in Eigenregie auf eine selbst gewählte Strecke zu gehen. Nadler will sich so gut wie möglich ans Original halten. Das heißt, er läuft um sechs Uhr los, mit Startnummer 1522, allerdings in Schmiedefeld. „Auf die Idee, in Eisenach zu starten, kommen sicher einige. In Schmiedefeld sind hoffentlich nicht so viele unterwegs“, erklärt Nadler, der sich mit Freunden auf einer Wiese verabredet hat.
Zusammen laufen sie die 73,9 Kilometer – mit Abstand. Wieder mal eine Premiere, und erstmals wird Nadler eine Laufuhr tragen. Es geht ihm nicht um die Zeit, er will die Strecke nachweisen. Seine 46. Teilnahme hat der passionierte Schachspieler, der jahrelang den Nachwuchs trainiert und Turniere geleitet hat, schon fest eingeplant. Traditionell meldet er sich zwischen Weihnachten und Neujahr an.
Schlangenfett-Fußcreme kann er nicht mehr riechen
Mittlerweile gehört Nadler zum Rennsteiglauf wie der Haferschleim, das Markenzeichen an den Verpflegungsstellen. „Der soll mit der Beste sein. Doch inzwischen komme ich nicht mehr ran“, gesteht er. Dann lieber die Klöße bei der Party am Vorabend. Mit der Schlangenfett-Fußcreme reibt er sich auch nicht mehr ein. „Wenn ich sie rieche, dann wird mir schlecht.“
Nadler bestritt zudem viele 100-Kilometer-Läufe und startete 15-mal bei 24-Stunden-Läufen. 1989 zum Beispiel in Prag, eine Woche vor der Grenzöffnung. „Wir haben nachts Nachrichten gehört, vom Laufen nicht viel mitbekommen. Da war ich der beste Teilnehmer aus der DDR“, erzählt Nadler. Seine Bestzeiten hat er auf die Minute parat: Marathon in 2:46 Stunden, Rennsteiglauf in 5:40 Stunden, 100 Kilometer in 8:12 Stunden und 190,9 Kilometer an einem Tag. Auch sie verbucht Nadler als Erfolge.

Doch um Zeiten geht es ihm schon lange nicht mehr. „Ich laufe jeden Morgen schön gemütlich 15 bis 18 Kilometer zum Erholen mit einer Geschwindigkeit von zehn Kilometern pro Stunde“, sagt Nadler. Die Runde führt ihn nach Sachsen-Anhalt zu den Tagebauresten bei Bitterfeld-Wolfen.
„Eine herrliche Gegend. Da fährt kein Auto, treffe ich keinen Menschen. Ich beobachte die Natur, sehe Akazie und Ginster blühen, Wildgänse und -schweine, Füchse, Hasen, Kraniche und Rehe. Ich liebe die Ruhe im Wald. Dort schalte ich ab“, meint er und geht die Sache jetzt locker an.
Gute zehn Stunden hat er im Vorjahr für den Supermarathon gebraucht. „Ich will mich möglichst lange fit halten. Das schaffe ich durchs Laufen. Ich bin so gut wie nie krank und mit 68 doch noch relativ schnell.“ Doch der erste Rennsteiglauf, damals im Mai 1975, der bleibt sein Höhepunkt.