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Sackgasse als Beginn vor 65 Jahren

Am 31. August 1955 wurde ein Grundstein in der August-Bebel-Straße gelegt – für die falsche Hoyerswerdaer Neustadt.

Von Uwe Jordan
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Zeitgenössisches Bild 1955 vom Baubeginn in Hoyerswerdas August-Bebel-Straße.
Zeitgenössisches Bild 1955 vom Baubeginn in Hoyerswerdas August-Bebel-Straße. © Archivfoto: privat

Hoyerswerda. Gebt mir eine Planierraupe für den ersten Spatenstich. Ein Spaten ist für dieses Projekt zu klein“, hatte der DDR-Minister für Schwerindustrie, Fritz Selbmann, am Vormittag des 31. August 1955 verlangt, als im Niemandsland der Trattendorfer Heide der Grundstein für das spätere Gaskombinat Schwarze Pumpe gelegt wurde. Am Nachmittag desselben Tages hätte er, gut 15 Kilometer weiter südwestlich, etwas oberhalb des Hoyerswerdaer Bahnhofes, fordern müssen: „Gebt mir einen Portalkran. Eine Maurerkelle ist für dieses Projekt zu klein.“ 

Aber Fritz Selbmann war bei der Grundsteinlegung der Hoyerswerdaer Neustadt nicht mehr Haupt-Akteur, und außerdem hätte man sich an diesem Tage auch zweierlei noch gar nicht vorstellen können: dass, erstens, die wahre Neustadt von Hoyerswerda nicht hier, im Herzen der Altstadt, entstehen sollte, sondern östlich der Schwarze Elster als (fast) eigenständige neue Stadt. Und dass, zweitens, die Zeit von „Ein Stein – ein Kalk – ein Bier“ endgültig vorbei war.

Im Warschau-Stalinstädter Tempo

Gewiss hätte sich die Wittichenauer Maurer-Brigade Nartschick (vom Kreisbaubetrieb Hoyerswerda), die an jenem Nachmittag des 31. August vor einer extra errichteten Tribüne das Aufführen der August-Bebel-Straße 16 begann, jenes „Stein–Kalk–Bier“-Schema energisch verbeten. Arbeitete man doch nach dem neuen (polnischen) Dreier-System des Mauerns, auch genannt „Warschauer Tempo“ und erstmals erprobt beim Aufbau der ersten sozialistischen Großstadt der DDR, Stalinstadt (jetzt: Eisenhüttenstadt) in der Brigade von Ellen Nitz: Zwei Handlanger bereiten dem Dritten, dem Maurer, mit Steinezureichen und Mörtelaufschaufeln seine eigentliche Arbeit so vor, dass er nur noch den Ziegel ausrichten musste, ohne sich zu bücken oder andere Handgriffe zu verrichten. Was erlaubte, das Arbeitstempo unter idealen Bedingungen so zu steigern, wie es im Karl-Liebknecht-Schacht des Lugau-Oelsnitzer Steinkohlenreviers bei Zwickau Adolf Hennecke gelungen war, der am 13. Oktober 1948 statt der 6,3 Kubikmeter Hauer-Norm in einer optimal vorbereiteten Schicht 24,4 Kubikmeter Kohle förderte – 387 Prozent!

Doch wie bei Hennecke und bei den meisten großen „historischen Momenten“ war es auch hier in Hoyerswerda, der künftigen zweiten sozialistischen Großstadt der DDR, vor allem: Show. Denn den ersten Spatenstich an selber Stelle hatte es bereits am 10. August gegeben, und der Bahnhofsvorplatz mit seinen 350 WE (Wohneinheiten) würde ebenso wie die Westrandbebauung (noch heute 650 WE genannt) nur Vorspiel bleiben zur „richtigen“ Neustadt östlich der Elster, bei der sich um eine Magistrale herum (später Wilhelm-Pieck-Straße, heute: Bautzener Allee) Wohngebiete für 4- 5.000 Einwohner anlehnen sollten – bis die damalige Zielgröße von 38.000 Neu-Hoyerswerdaern erreicht war.

Der Baubeginn dieser wahren Hoyerswerdaer Neustadt wurde auch nicht knapp zwei Jahre später, am 15. Juni 1957, vollzogen, dem offiziellen Geburts-Datum von Hoyerswerda-Neustadt am Blockbaublock 103, der späteren John-Schehr-, nunmehr Otto-Damerau-Straße 2-10 – sondern der Anfang wurde am 2. Mai 1957 gemacht: Da erreichte die erste im Betonwerk Zeißig gefertigte Groß-Wohnblock-Platte ihren Bestimmungsort am Blockbaublock 114; später Ernst-Schneller-, heute Konrad-Zuse-Straße 9-13 im WK (Wohnkomplex) I, und hier wurde auch die wahre Grundsteinkassette der Neustadt versenkt.

Warum nun aber ein „krummes Datum“ wie der 15. Juni; noch dazu am falschen Block? Hätte sich nicht eher, zumal zeitlich naheliegender und gewiss zu schaffen, der 1. Mai, „Kampf- und Feiertag der Werktätigen“, angeboten? Schon – aber die erste, zweite und dritte Garnitur der Partei- und Staatsführung waren am 1. Mai in Moskau oder Berlin oder mindestens in der damaligen Bezirkshauptstadt Cottbus bei den „machtvollen Kampfdemonstrationen der Werktätigen“ – keine Zeit für Hoyerswerda! So fiel die Wahl des Vorzeige-Termins auf den 15. Juni 1957. Aber der 31. August 1955, der kommende Montag vor nunmehr 65 Jahren, ist und bleibt der Termin für die Geschichtsbücher.

Erinnerungstafel an ebenjenes Ereignis.
Erinnerungstafel an ebenjenes Ereignis. © Archivfoto: Julia Lindenberger
Margitta Faßl, Chefin der Wohnungsgesellschaft, Oberbürgermeister Horst-Dieter Brähmig und Rudolf Lück von der Hoyerswerdaer Aufbauleitung pflanzen zum 50-Jahr-Jubiläum eine Eiche an der Bebelstraße 16.
Margitta Faßl, Chefin der Wohnungsgesellschaft, Oberbürgermeister Horst-Dieter Brähmig und Rudolf Lück von der Hoyerswerdaer Aufbauleitung pflanzen zum 50-Jahr-Jubiläum eine Eiche an der Bebelstraße 16. © Archivfoto: Julia Lindenberger