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Schlange stehen für einen Kita-Platz

Die wachsende Großstadt Leipzig kommt mit dem Ausbau der Kinderbetreuung nicht nach. Leidtragende sind die Eltern.

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© dpa

Von Sven Heitkamp, Leipzig

Es war ein Bild wie aus alten Tagen: Hunderte Menschen stehen in Leipzig auf der Lößniger Straße Schlange, als ob es etwas zu verteilen gibt. Das Foto rauscht im Nu durchs Internet und lässt Leser in der halben Republik bass erstaunen. Doch die Eltern, die dort seit dem frühen Morgen warten, viele mit Baby, wollen lediglich ihr Interesse für einen der 165 Kindergartenplätze bekunden. Die Kreativ-Kita „Tillj“ der Johanniter als Träger wird zwar erst im August eröffnet, doch der Andrang ist riesig. Denn es mangelt in der Boomtown dramatisch an Betreuungsplätzen, besonders in den kinderreichen Stadtvierteln wie in der Südvorstadt unweit der MDR-Zentrale.

Das Symbolbild steht für die erheblichen Wachstumsschmerzen der wachsenden Großstadt. Seit 2002 ist die Bevölkerung um mehr als 100 000 Menschen auf mittlerweile 590 000 Einwohner geklettert. Jedes Jahr kommen derzeit mehr als zehntausend Bewohner hinzu – und das Rathaus kommt mit der Infrastruktur nicht nach. Die Stadtverwaltung räumt inzwischen ein, dass ihr derzeit allein 1 100 Plätze für Kinder unter drei Jahren fehlen. Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD) wird gar mit den Worten zitiert: 1 500 neue Plätze täten der Stadt jetzt gut. Und die Aufholjagd ist noch nicht vorbei: „Es ist ein Wettlauf“, sagt Sozialbürgermeister Thomas Fabian (SPD): „Noch werden Kinder schneller geboren als Kitas gebaut.“

Die Folgen für viele Eltern sind jedoch fatal. Victoria Jankowicz organisiert ehrenamtlich mit anderen Eltern eine Bürgerinitiative, um die desolate Betreuungslage zu verbessern. „Der Mangel ist akut“, sagt sie. „Viele Eltern sind enorm frustriert, sie können ihre Elternzeit nicht genießen, wenn sie keine Planungssicherheit haben.“ Denn wer keine Betreuung für sein Kind finde, könne nicht an den Arbeitsplatz zurückkehren. Kulante Unternehmen würden zwar ein paar Monate abwarten. Jankowicz kennt aber Beispiele von Eltern, die ihren Job verloren haben, weil sie nicht rechtzeitig einen Kita-Platz fanden. „Betroffene Eltern strampeln sich ab, um die Betreuung irgendwie privat abzufedern, mit Eltern und Freunden, mit Teilzeit und Tagesmüttern“, sagt Jankowicz.

Realität überholt Prognosen

Tatsächlich ist die Leipziger Betreuungslandschaft in den vergangenen zehn Jahren zwar deutlich gewachsen, allerdings nicht so schnell wie die Bevölkerung. Vor zehn Jahren gab es in Leipzig gut 18 000 Kita-Plätze, mittlerweile sind es 27 000 in 246 Kitas. Bis nächstes Jahr sollen weitere 3 800 Kita-Plätze durch immerhin 37 Neubauten, Erweiterungen und Sanierungen hinzukommen. Die Stadt erklärt ihre Misere vor allem mit dem unerwarteten Wachstum. Arbeitsgrundlage für alle Planungen sei die Bevölkerungsprognose, die ein Arbeitskreis mit Experten aus wissenschaftlichen Instituten erstelle. „Seit zehn Jahren wurden die Vorausschätzungen durch die Realität bei Weitem übertroffen“, heißt es im Rathaus. Allein die Geburtenzahlen haben sich seit dem Jahr 2000 auf knapp 6900 im vorigen Jahr nahezu verdoppelt. Hinzu kommt ein Zuwanderungsplus von jährlich mehr als 10 000 Menschen.

Die Leipziger Kita-Initiative wirft der Stadt allerdings vor, den Ausbau lange verschlafen zu haben. „Der Bedarf wird seit Jahren zu niedrig angesetzt, die Prognosen sind falsch“, sagt Jankowicz. Bis heute würden Bauprojekte in den Ämtern unnötig verzögert, es fehle an Grundstücken und an Unterstützung für Investoren, für Gründungswillige, für Klein-Kitas und für Kinderläden. „Wir fordern, dass die Stadt zur Not selbst mehr Kitas baut und betreibt, anstatt Last und Verantwortung für die Kinderbetreuung auf die freien Träger abzuwälzen“, heißt es in einem Forderungskatalog, den die Initiative vorige Woche öffentlich machte. Mittlerweile haben die Organisatoren für den 21. Juni zu einer Demonstration vor dem Rathaus aufgerufen, um ihre Forderung nach mehr Transparenz, Gehör und bessere Betreuung zu unterstreichen.

Es gehört zu den Traditionen in der Stadt der friedlichen Revolution, dass rund 80 Prozent der Kitas von freien Trägern betrieben werden. Diese Vielfalt ist politisch gewollt – sie entstand um 1990, als viele Eltern der staatlichen Kindererziehung den Rücken kehrten. Derzeit baut die Stadt lediglich an drei Kita-Erweiterungen mit knapp 200 Plätzen, um ihren übrigen Betreuungsanteil von etwa 20 Prozent zu erhalten. Der Kampf um Kita-Plätze ist der Stadt schon einmal auf die Füße gefallen. Seit 2014 klagen drei betroffene Eltern ihren Verdienstausfall ein, weil sie nicht rechtzeitig einen Kita-Platz erhielten. Der Rechtsstreit führte bis zu einem Grundsatzurteil am Bundesgerichtshof und wird Mitte Juni erneut vorm Dresdner Oberlandesgericht verhandelt. In Dresden fährt man derweil einen anderen Kurs: Die Stadt baut die meisten Kitas selbst, sie hat seit 2008 fast 12 000 Plätze neu geschaffen und baut noch weiter. Zudem ist in der Landeshauptstadt ein Ende des Baby-Booms absehbar. „Die wilden Jahre sind vorbei“, sagt Bildungsbürgermeister Hartmut Vorjohann (CDU) und rechnet bald wieder mit freien Kapazitäten.

In der Leipzig Kita „Tillj“ hat man aus seinen Fehlern gelernt. Ein weiterer öffentlicher Termin zur Kinderanmeldung wurde kurzerhand abgeblasen. „Mit dem großen Ansturm wurde nicht gerechnet. Das war eine Fehleinschätzung“, sagt Wilma Bär vom Johanniter-Landesvorstand. Die 270 Interessenbekundungen, die an jenem Tag eingingen, würden nun über das städtische Kita-Vermittlungsportal vergeben. Doch das Onlineportal, sagt Initiativen-Sprecherin Jankowicz, funktioniere nicht, weil freie Träger es kaum nutzen und die Stadt es zu wenig pflegt. „Wenn man dort seinen Bedarf anmeldet, bleibt er monatelang im selben Status stehen: in Bearbeitung.“