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Schlüsselerlebnis unterm Dachstuhl

Ein altes Faktorenhaus wird verkauft. Wer Mut und Ideen mitbringt, auf den wartet unterm Dach eine Überraschung.

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Von Romy Kühr

Zu jedem Zimmer kann Adolf Bergér eine Geschichte erzählen. Davon gibt es viele in dem großen Faktorenhaus seiner Tante in Ebersbach. Es steht in zweiter Reihe an der Hauptstraße am Hang, unweit der Gaststätte „Brauerei“. Fast verwunschen wirkt der Garten mit den zwei alten Apfelbäumen vorm Eingang. „Wenn man die wegmacht“, schwärmt Bergér in Maklermanier, „hat man aus dem Dachgeschoss eine tolle Aussicht auf den Schlechteberg.“ Doch Bergér ist kein Makler, sondern einer der Erben, die das Haus nun verkaufen wollen. Denn Tante „Lore“, wie Bergér die alte Dame liebevoll nennt, ist vor Kurzem verstorben.

Der Verkauf fällt dem Mann aus dem Odenwald nicht leicht. Er hat in dem Haus einen Teil seiner Kindheit verbracht und war auch in den letzten Jahren noch regelmäßig hier zu Besuch. „Aber ich kann es in meinem Alter nicht mehr übernehmen“, sagt der 72-Jährige. Dabei hätte er durchaus Ideen. Eine einfache Herberge, zum Beispiel für Radtouristen, könnte er sich hier vorstellen. Nun muss sich ein anderer finden, der große Träume und viel Tatkraft mitbringt. Auch eine gute Portion Idealismus wird der künftige Käufer brauchen, meint Immobilienmaklerin Antje Dießner von der Sparkasse. Sie hat die Vermittlung übernommen, 22 000 Euro soll das Faktorenhaus kosten. Für die Sanierung wird der neue Eigentümer aber mindestens 100 000 Euro brauchen, schätzt die Maklerin. „Das ist ein Liebhaberstück“, sagt sie. Die Größe mache es schwer, für solch ein Objekt einen Käufer zu finden. Umgebindehäuser seien zwar gefragt. „Aber das ist kein klassisches Umgebindehaus.“ Einiges an Geschichte hat es dennoch aufzubieten. Glaubt man den Ausführungen einer Studie, die ein Student aus Dresden in den 1960er Jahren zum Gebäude anfertigte, steht hier sogar die Wiege der Ebersbacher Textilindustrie. Denn der Fabrikant Christoph Wilhelm Henke übernahm das Haus im Jahr 1831. In einfacherer Form existierte es wohl schon früher. Henkes Initialen prangen am Granittürstock, der mit gelber Farbe überstrichen wurde. Für ihn arbeiteten um die 1000 Handweber, noch bevor Hermann Wünsche die Weberei industrialisierte und eine Fabrik baute. Bekannt ist das Gebäude in Ebersbach aber als das Meißner-Haus. Der Arzt Alfred Meißner kaufte es 1881. „Das war mein Urgroßvater und der Großvater von Tante Lore“, erzählt Bergér. Und dann ist da noch eben diese Tante Lore, die dem Haus ihre eigene Geschichte verleiht. Ein Unikat sei sie gewesen, mit ihrer poltrigen aber herzensguten Art in Ebersbach bekannt. „Sie hat in der Flaschenannahme bei der HO gearbeitet. Daher kennen sie viele“, weiß Bergér. An ihrem Haus hing sie, erzählt der Neffe. Deshalb blieb sie auch im hohen Alter allein hier – ohne Zentralheizung oder Bad und mit Plumpsklo. Vor anderthalb Jahren spielte die Gesundheit nicht mehr mit und Lore musste ins betreute Wohnen.

Blickt man aus den Fenstern im ersten Stock auf Oberdorf und Kirche, kann man es ihr nicht verdenken, dass sie hier nicht wegwollte. Der Höhepunkt des Hauses wartet aber noch ein Stockwerk und eine wacklige Holztreppe höher: Die Aussicht zum Schlechteberg. Aus einem riesigen Ochsenauge lässt er sich durch die Zweige der Apfelbäume hindurch zumindest erahnen. Bergér hofft, dass sich jemand findet, der sich in diesen Blick verliebt.