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Sie mussten viel zu früh erwachsen werden

Im ARD-Film „Kinder des Krieges“ erinnern sich Zeitzeugen aus Deutschland an die Schrecken des Jahres 1945.

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© Waltraud Pleß/ARD/obs

Von Rainer Kasselt

Sie haben in Bombenkellern gezittert und in Ruinen gespielt. Sie sind vor dem Krieg geflohen und konnten ihm doch nicht entkommen. Sie haben gesehen, was sie nie vergessen werden. Traumatische Erlebnisse, die sie bis in ihre Träume verfolgen. Davon berichtet die 90-minütige Dokumentation „Kinder des Krieges“. Erinnerungen an das Jahr 1945. Zu Wort kommen 17 Zeitzeugen, damals Kinder, heute weit über achtzig. Manche sprechen zum ersten Mal vor der Kamera: gefasst, erschüttert, ungeschönt.

Lydia Bohling aus Bremerhaven, damals 14 Jahre alt: „Ich war ein 120-prozentiges Hitlermädel.“ Sie stellt ihre Tante zur Rede, weil diese den Krieg für verloren hält. „Ob sie sich nicht schäme, sie hätte zwei Söhne an der Front, die für Vaterland und Führer kämpfen, und sie sage so etwas.“ Lydia zeigt ihre Tante nicht an, aber sie ist kurz davor. Als die Alliierten vor der Stadt stehen, hilft sie ihrer Mutter, eine Hitler-Büste im Garten zu vergraben. Günter Lucks aus Hamburg, gerade 16 geworden, meldet sich freiwillig zum Volkssturm. „Die Ausbilder haben uns getriezt. Am dritten Tag sagten sie: Jetzt treten wir alle freiwillig in die Waffen-SS ein. Oder ist jemand dagegen?“ Keiner traut sich, nein zu sagen. Lucks krempelt den Ärmel hoch, zeigt das tätowierte A, seine Blutgruppe. „Mein Kainsmal.“

Autor und Regisseur Jan N. Lorenzen montiert zwischen die Interviews Dokumentaraufnahmen aus den letzten Kriegstagen, Ausschnitte aus NS-Wochenschauen, Todesanzeigen, Bilder aus befreiten Konzentrationslagern, Zeichnungen von Häftlingen, Durchhalteparolen. Knappe Kommentare ordnen das Geschehen ein. Die Einzelschicksale stehen für Millionen andere. Die neunjährige Isabella Zange aus Neunburg sieht am 21. April 1945, wie die SS Häftlinge auf dem Todesmarsch durch den Ort treibt. Etwa 200 Gefangene werden im nahen Wald erschossen. 

Theodor Reichert als 16-jähriger Luftwaffenhelfer
Theodor Reichert als 16-jähriger Luftwaffenhelfer © rbb/Schmidt & Paetzel Fernsehfilme

Am 29. April haben sich alle Bewohner, auch die Kinder, auf dem Friedhof einzufinden. „Da mussten wir die Toten anschauen, es war schrecklich“, sagt die Zeugin. Die 17-jährige Elfie Walther aus Delmenhorst wird von britischen Offizieren zur Arbeit im befreiten KZ Sandbostel verpflichtet. Häftlinge waschen, entlausen, einkleiden. „Die Häftlinge waren so schwach, sie konnten kaum zu den Latrinen gehen.“ Elfie Walther schämt sich heute, dass sie „damals so dumm war und diese BDM-Uniform getragen hat“. 

Der zwölfjährige Alois Schneider aus dem Saarland verliert beim „Heldenspielen“ mit gefundener Munition sein rechtes Bein. Nur widerwillig behandelt ihn ein Arzt: „Solchen Kindern soll man nicht mehr helfen“, sagt er der entsetzten Mutter. Der Arzt hält „Krüppel“ nicht für lebenswert. Brigitte Roßow aus Demmin, damals zehn, widersetzt sich, „als meine Mutter mir die Pulsadern aufschneiden wollte“, aus Angst vor den nahenden Russen. Die zehnjährige Gisela Jäckel aus Wetzlar gilt im Nazijargon als Halbjüdin. Als Bomben fallen, sucht das Mädchen Schutz in einem Bunker. „Mach, dass du rauskommst“, rufen die Nachbarn.

© MDR/MDR Mitteldeutscher Rundfunk/obs

Reinhard Kluge, 12, ist Kruzianer in Dresden. Am 4. August 1945 steht er in der ausgebrannten Kreuzkirche. Der Chor bringt die Trauermotette „Wie liegt die Stadt so wüst“ zur Uraufführung. Kantor Rudolf Mauersberger schrieb sie nach Texten aus den Klageliedern des Propheten Jeremias. „Ein Text, der der Gefühlslage der Menschen sehr entsprochen hat“, sagt Kluge. Heute wundert er sich, dass die Frage von Schuld und Sühne, wie sie bei Jeremias gestellt wird, in der Motette nicht vorkommt. „Warum haben wir Mauersberger nicht gefragt?“

Die Dokumentation „Kinder des Krieges“ ist ein Film gegen das Vergessen und Verschweigen. Das Schlussbild zeigt den Wetzlarer Stolperstein für die ermordete Jüdin Gisela Best, die Mutter von Gisela Jäckel. 1956 erhielt die Tochter in der Bundesrepublik als „Wiedergutmachung“ 500 DM. „Davon kann man doch keine Mutter bezahlen“, sagt sie.

„Kinder des Krieges“, Montag, 20.15 Uhr, ARD