Sind wir jetzt alle verrückt geworden?

Von Michael Bittner
Dem AfD-Politiker Björn Höcke fällt es schwer zu verstehen, warum die Mehrheit der Deutschen sich seiner Führung noch nicht anvertrauen will. Er kann sich dies nur so erklären: Deutschland nähere sich, „was die politische Szene anbelangt, dem Zustand eines Irrenhauses: Hier tummeln sich notorische Realitätsverweigerer, Hysteriker, Schizophrene, Autoaggressive und auch Psychopathen.“ Zu seiner Diagnose angeregt wurde Höcke von dem Psychiater Hans-Joachim Maaz aus Halle, der seit vielen Jahren als Bestsellerautor die deutsche Gesellschaft aus psychologischer Warte analysiert. Als er Angela Merkel im Fernsehen eine Störung attestierte, inspirierte das Höcke dazu, nach einer „Zwangsjacke“ für die Bundeskanzlerin zu rufen. In seinem neuen Buch „Das gespaltene Land“ hat Maaz seine Thesen nun noch einmal aufgeschrieben.
Laut Maaz leiden die meisten Deutschen, ohne es sich einzugestehen, unter einer von acht psychischen Störungen: Sie seien bedroht, besetzt, ungeliebt, abhängig, gehemmt, erpresst, vernachlässigt oder überfordert. Die Schäden gehen nach seiner Einschätzung auf verschiedene Formen der Misshandlung und Vernachlässigung in der frühen Kindheit zurück. Vor allem die „Fremdbetreuung“ von Kleinkindern sei das Grundübel unserer Gesellschaft und produziere unablässig kranke und potenziell gewalttätige Menschen.
Wer ist hier hysterisch?
Maaz fasst den Begriff der psychischen Schädigung so weit, dass er die ganze Gesellschaft auf seine Couch legen kann. Deutschland leide insgesamt unter einer „Normopathie“, „die nicht als Fehlentwicklung erkannt oder anerkannt wird, weil eine Mehrheit der Bevölkerung im Denken, Fühlen und Handeln ‚gleichgeschaltet‘ ist.“ Abhängige Menschen werden laut Maaz von Herrschsüchtigen missbraucht; Ausbruchsversuche entfesseln nur den unbewusst brodelnden Hass, der stellvertretend in einem politischen Kampf ausgelebt wird, der die Gesellschaft spaltet.
Die Art, wie Maaz die individuelle, experimentelle Therapieform der Psychoanalyse zur umfassenden Gesellschaftsdiagnose aufbläst, sorgt bei vielen seiner Fachkollegen für Entsetzen. Offenkundig missbraucht Maaz die Autorität der Psychologie, um seine eigenen politischen Positionen mit vermeintlicher Objektivität vorzutragen und Andersdenkende als krank zu denunzieren. Bei unzähligen Lesern ist Maaz dennoch außerordentlich beliebt. Es ist nicht schwer zu verstehen, warum: Er liefert Schuldige, denen die Menschen ihr eigenes Unglück und Versagen anlasten können, und scheint außerdem noch alle Probleme zu erklären, unter denen die Welt leidet.
Wer die Spaltung der Gesellschaft überwinden wolle, so verkündet der Klappentext des Buches, der dürfe sich „nicht auf eine der beiden Seiten schlagen“. Vor diesem eigenen Anspruch versagt Maaz völlig. Streckenweise liest sich sein Buch wie das Parteiprogramm der AfD, übersetzt in psychotherapeutischen Jargon. Die Proteste von Rechten gegen „Lügenpresse“ oder „Islamisierung“ werden als berechtigt gewürdigt, das Engagement von Linken und Liberalen gegen Nationalismus oder den menschengemachten Klimawandel hingegen als irrational und hysterisch abgetan.
Der Politiker, "Handwerker" zum Wohle des Kunden
Der Mann, der die Deutschen zur „innerseelischen Demokratie“ befähigen will, besitzt selbst nur ein naives, im Kern undemokratisches Verständnis von Politik. Indem er die menschliche Psyche zur „Basis“ der Gesellschaft, die ökonomischen und politischen Strukturen aber zum „Überbau“ erklärt, stellt er die Wirklichkeit auf den Kopf. Gerade weil er nicht begreift, dass gesellschaftliche Konflikte ihren Ursprung zumeist in realen Interessengegensätzen haben, muss er sie für Symptome psychischer Störungen halten. Sein uneingestandenes Harmonieideal ist eine endgültig befriedete Volksgemeinschaft. Der Pluralismus ist für ihn Notbehelf einer bloß „äußerlichen“ Demokratie, Parteien sind verächtlich, Wahlen im Grunde nutzlos. Politiker sollten eigentlich „Handwerker“ sein, die „zum Wohle der Kunden“ nach einer „Eignungsprüfung“ die „Volksinteressen“ durchsetzen – die Maaz als im Grunde identisch fantasiert.
Immer wieder gibt sich Maaz den Anschein, „antikapitalistisch“ zu argumentieren, wohl um auch bei linken Ostdeutschen Anklang zu finden. Tatsächlich ist seine Argumentation erzreaktionär. Indem Maaz nicht die gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern die „narzisstisch-süchtige Lebensform“ der Massen für „Profitmaximierung, Ausbeutung, ungerechte Verteilung, unfairen Handel, Korruption, Gewalt und Kriege“ verantwortlich macht, entlastet er die Mächtigen und schiebt die Schuld auf typisch neoliberale Weise den Einzelnen zu. Die „Beteiligung an sozialen Konflikten und gesellschaftlichen Kämpfen“ hält er für ein Krankheitssymptom.
Weil Maaz wirklich politisch nicht einmal denken kann, bleibt ihm am Schluss nur der Rückzug in private Selbstzufriedenheit und die pessimistische Erwartung einer „gesellschaftlichen Selbstzerstörung“. Dass dieses „Titanic-Gefühl“ weniger mit der Realität zu tun hat als mit der Stimmung des Autors in der „Phase des abschiedlichen Lebens“ – diese Selbsterkenntnis bleibt dem Seelenforscher verschlossen.
Hans-Joachim Maaz: Das gespaltene Land. Ein Psychogramm. München: C.H. Beck, 2020, 224 Seiten, 16,95 Euro.