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So war die Medea-Premiere auf Abstand

Das Dresdner Staatsschauspiel öffnet erstmals seit den Corona-Schließungen seine Türen – mit einem Politthriller.

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Fanny Staffa als Medea
Fanny Staffa als Medea © Sebastian Hoppe

Warum nur hat sie das getan? Es ist die unmöglichste, die unsagbarste Tat der Literaturgeschichte: Medea tötet ihre Kinder. Literatur, Theaterstücke, Filme und Opern haben sich an der antiken Figur abgearbeitet, haben sie verurteilt und rehabilitiert. Medea ist mal Furie, mal Ausgestoßene, mal Geflüchtete. Doch am Ende bleibt immer eine Leerstelle, bleibt das Unbegreifliche: Eine Mutter, die ihre Kinder umbringt. 

Der Roman "Medea-Stimmen" von Christa Wolf ist die Grundlage der ersten Premiere im Dresdner Staatsschauspiel nach den coronabedingten Schließungen. Simon Werdelis, selbst Schauspieler am Theater, hatte die Leitung diese Inszenierung, die die Abstandsregeln nicht nur einhält, sondern radikal nutzt. Denn es trifft immer nur ein Zuschauer auf einen Schauspieler – keine Chance für Viren. Immer nur eine Person darf die Vorstellung betreten, viertelstündlich ist Einlass.

Monolog auf der Herrentoilette

Gelbe Aufkleber auf dem Boden lotsen die alleingelassene Zuschauerin ins Theaterfoyer. Ein frisch desinfizierter Telefonhörer wird gereicht, aus dem Medeas Stimme zu hören ist. Medea, die einem Mann in ein anderes Land gefolgt ist, von Kolchos nach Korinth, aus Liebe und weil sie denkt, damit ihr Volk retten zu können. Gelbe Pfeile weisen den Weg zur nächsten Station: die Theatertoilette. Hier trifft man auf den Schauspieler Philipp Grimm, dem man mit genügend Abstand zusehen und -hören darf. Auf der Toilette berichtet er als Jason davon, wie er Medea verfallen ist, wie sie ihn verzaubert hat. So nennt er es. Medea, das sagen alle, hat magische Kräfte, mit denen sie verschüttete Geheimnisse in Korinth aufdeckt. Blutige Taten, die verborgen sind unter einem perfiden Mantel des Schweigens. Sie weckt Erinnerungen, will sich nicht mit Kollektivlügen zufrieden geben. Das macht sie so gefährlich. Darum muss sie weg.

Medea und fünf Personen aus ihrem Umfeld rekonstruieren in Monologen nicht die Tat die Verstrickungen, die schwerwiegenden politischen Entscheidungen, die Medea zum Verhängnis werden. Diese Dichte ist schon im Roman von Christa Wolf bedrückend. In der Theaterinszenierung wird die Eins-Zu-Eins-Situation zu einer körperlich spürbaren Erfahrung. Diese Nähe muss man aushalten können. Wenn man etwa Ursula Hobmaier an einem langen Tisch gegenübersitzt und sie als Agame von ihren Intrigen berichtet. Hinsehen? Wegsehen? Lächeln? Gar antworten?

Es geht  in einen Garderobenraum, wieder ins Foyer, man wandert von Station zu Station, von Monolog zu Monolog. Fanny Staffa spielt eine Medea, die noch voll Kraft strotzt, obwohl sie weiß, dass alle gegen sie spielen. Sie ist ein Opfer der Politik, spätestens Hans-Werner Leupelt als geschickter Stratege Akamai macht das furchteinflößend klar. Doch auch menschliche Opfer hat das politische Geschachere: Die Königstochter Glauke, gespielt von der Schauspielschülerin Marlene Reiter, ist seelisch am Ende, nachdem sie vor Jahren den Mord an ihrer Schwester miterlebt hat.

Packende körperliche Nähe

Bei dieser 75-minütigen Wanderung durchs Theaterfoyer, Gänge und Treppenhäuser passiert etwas Sonderbares: Angesichts der Vielzahl der Perspektiven erlaubt man sich irgendwann kein Urteil mehr über den "Fall Medea". Fast zuckt man mit den Schultern, so vielschichtig sind die Umstände, die zu einer einzigen tragischen Tat führen. Was soll man auch tun? So drückt es auch Leukon aus, der von dem grandiosen Schauspielschüler Franziskus Claus gespielt wird: "Mich macht das passiv." Zunächst ergriffen, dann ernüchtert erzählt er von Medeas Schuld und dem Prozess gegen sie, er wittert "Verschwörungstheorien", und hier passiert an diesem ungewöhnlichen Abend das einzige Mal etwas, das man Aktualisierung nennen könnte. Ansonsten spricht der Stoff für sich, packt durch die körperliche Nähe und entlässt einen um Atem ringend in die Abendluft.


Alle Termine und Kartenbestellung hier: Staatsschauspiel Dresden