Unsere Tochter (14) möchte jetzt in der Fastenzeit sowohl auf Süßigkeiten als auch auf Fleisch verzichten. Ich spüre Unbehagen, vielleicht isst sie nachher nie wieder Fleisch. Was raten Sie als Kinderpsychiater?
Unabhängig vom religiösen Bezug nutzen nicht wenige Menschen die Wochen vor Ostern, um sich im Verzicht zu üben – ohne Fleisch, Alkohol, Schokolade oder auch in neueren Formen. Im Grunde gibt es keine Bedenken oder gar Studien, dass nach der Fastenzeit viele Vegetarier „geboren“ werden.
Unabhängig davon gibt es im Fall einer ausgewogenen Ernährung bei älteren Kindern und Jugendlichen wenige Einwände gegen eine vegetarische Ernährung. Nicht zuletzt sind auch positive gesundheitliche Aspekte wie ein geringeres Risiko für Stoffwechsel- und Herzerkrankungen bekannt. Auch der Verzicht auf Süßigkeiten klingt zunächst einmal vernünftig. Wenn man es schafft, nach dem Fasten seinen Konsum dauerhaft auf einen bewussteren genussvollen Verzehr zu reduzieren, ist dies generell zu begrüßen.
Allerdings gibt es aus meiner Sicht bei Kindern und Jugendlichen durchaus eine gewichtige Schattenseite des Nahrungsmittelfastens. Gar nicht so selten berichten uns Patientinnen mit einer teilweise auch schweren Essstörung, dass diese im Prinzip in der Fastenzeit begonnen habe. Denn einige „anfällige“ Heranwachsende finden, getriggert durch das gesellschaftlich anerkannte Fasten, zu viel Gefallen am Verzicht. Sie bemerken innerhalb des eigentlich streng vorgegebenen Rahmens der Fastenzeit, welcher das Durchhalten zunächst vereinfacht, dass das Weglassen von dick machenden Lebensmitteln gar nicht so schwer ist. Verlieren sie dann auch noch Gewicht und bekommen bisher vermisste Komplimente, scheint das Glück perfekt. In einer Phase der Selbstfindung mit Selbstzweifeln und Konzentration auf das Aussehen beenden manche den Verzicht nicht mehr oder steigern sogar sukzessive die Menge der „verbotenen“ Lebensmittel nach Ende der Fastenzeit. Sie nehmen weiter ab und geraten so schnell in den Teufelskreis einer manifesten Magersucht.

Einige Risikofaktoren sind bekannt, die junge Mädchen anfälliger für diese Erkrankung machen. Dazu gehören genetische Vorbelastung, Pubertät und das weibliche Geschlecht, Aspekte in der Familie wie Überbehütung und Konfliktvermeidung oder psychiatrische Erkrankungen wie Depressionen im familiären Umfeld. Fehlendes Selbstwertgefühl und/oder ein zwanghafter, perfektionistischer Charakter, Angst vor Überforderung und Übergewicht sowie die Unzufriedenheit mit dem Aussehen sind auch Risikofaktoren. Zudem sind bestimmte Gruppen wie Tänzer, Models oder Sportler besonders anfällig. Letztendlich können aber weder Eltern noch Ärzte vorher abschätzen, welches Risiko ein Kind trägt, magersüchtig zu werden. Daher rate ich als Kinderpsychiater bei Heranwachsenden von größerem Lebensmittelverzicht zur Fastenzeit und von eigenmächtigen Diäten ohne ärztliche Führung ab.
Schließlich gibt es auch weitaus gesündere Alternativen: Neben Nahrung wird mittlerweile auf Internet, soziale Medien, Rauchen oder Smartphon verzichtet. Wie wäre es also mit einem Smartphone-Fasten für die ganze Familie – mit Nebenwirkungen wie plötzliche Gemeinschaft und Gespräche oder auch mehr Zweisamkeit bei Paaren. Wenn an diesem Verzicht alle nach der Fastenzeit so viel Gefallen daran gefunden haben, dass sie nicht mehr aufhören können, umso besser….
Haben auch Sie eine Frage an den Kinder- und Jugendpsychiater Prof. Dr. med. Veit Rößner vom Dresdner Uniklinikum? Schreiben Sie an die Sächsische Zeitung, Nutzwerk, 01055 Dresden oder eine Mail an [email protected]