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Todesstreifen auf der Ortenburg

Die Berliner Sonnenallee wird in einer satirischen DDR-Zeitreise ins Bautzener  Sommertheater verlegt.

Von Rainer Kasselt
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Micha (Richard Koppermann) hält eine leidenschaftliche Rede – inspiriert von der Liebe und nicht von der Politik.
Micha (Richard Koppermann) hält eine leidenschaftliche Rede – inspiriert von der Liebe und nicht von der Politik. © SZ/Uwe Soeder

Ohne Stempel kommt keiner rein. Nur wer ein Visum hat, darf in das Grenzgebiet. Soldaten mit Maschinenpistole bewachen den Übergang. Zeitreise in die 1970er-Jahre. Der Hof der Bautzener Ortenburg verwandelt sich in die Berliner Sonnenallee. Das Deutsch-Sorbische Volkstheater macht’s möglich. Der 24. Bautzener Theatersommer wurde am Donnerstagabend mit der Komödie „Am kürzeren Ende der Sonnenallee“ eröffnet. Nach dem Roman von Thomas Brussig auf die Bühne gebracht von Intendant Lutz Hillmann.

Pioniere mit rotem Halstuch verkaufen Lose, FDJler in Blauhemd Programmhefte. Ein Anklatscher animiert: „Für Frieden und Sozialismus: Seid bereit!“ Und die Zuschauer versichern prustend: „Immer bereit!“ An einer Hauswand wird für Plaste und Elaste aus Schkopau geworben. Hinter dem Tresen prangt auf einem Spruchband Honeckers vergebliche Hoffnung: „Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf.“ Nach drei Freiluftspektakeln mit der Olsenbande wird es im 30. Jahr des Mauerfalls politischer. Der Todesstreifen ging mitten durch die Sonnenallee, trennte Ost- und Westberlin. Von 411 Hausnummern lagen ganze 32 im DDR-Gebiet.

Dort im Schatten der Mauer lebt Micha mit seiner Clique: Vier Abiturienten, die Schlaghosen tragen, Rockmusik vom Sender Freies Berlin hören, Moped fahren und von Mädchen träumen. Alle lieben die blonde Miriam. Micha ist hin und weg, wenn er an sie denkt, „die wunderbare, anbetungswürdige, unerreichbare Miriam“. Sie hat nur einen Fehler. Sie knutscht einen Westschnösel, der ständig mit einer anderen Luxuskarre auftaucht.

Realer DDR-Alltag mit Hoffnung auf Veränderung

Darf man im Grenzgebiet mit Gefechtsalarm, Stasi-Kontrollen und Schüssen eine Komödie ansiedeln? Wird die DDR nostalgisch verklärt und verharmlost, werden die Opfer verhöhnt? Diese Fragen galten dem Roman von Brussig wie der Verfilmung von Leander Haußmann. Ein Spagat auch für die Bautzener Bühne. Die zustimmenden Reaktionen der Besucher sprechen für sich. Hier wird nichts der sommerlichen Leichtigkeit geopfert. Hier wird realer DDR-Alltag gezeigt mit Hoffnung auf Veränderung und Häuslichkeit in der Nische. So wurde gelebt, geliebt und gelacht trotz Mauer und Stacheldraht.

Die Inszenierung in der präzisen Ausstattung von Miroslaw Nowotny hat weder Kosten, Ideen noch Mühe gescheut, um einen satirisch-kritischen Blick zurückzuwerfen. Das hoch engagierte Ensemble wurde um bemerkenswert gut agierende Kleindarsteller und Herren der Requisite erweitert. Die Rockband Mauersegler spielt unter der musikalischen Leitung von Tasso Schille mehr als zwanzig Titel, berühmte Songs und Lieder, von den Puhdys, den Beatles, von Wonderland, Renft, Belafonte, Piaf, Karussell bis zu Frank Schöbels „Ich geh vom Nordpol zum Südpol zu Fuß“. Nicht zu vergessen die Rolling Stones. Ihr größter Fan ist Michas Kumpel Wuschel. Auf dem Schwarzmarkt erwirbt er für 50 Mark West, die er Miriams Schnösel abluchst, das 72er-Doppelalbum „Exile on Main Street“ in der englischen Originalfassung. Als er die Platte im Vorgefühl von höchstem Glück auflegt, hört er statt der Gitarre von Keith Richards das Stimmchen von Ljubka Dimitrovska. Der Plattendealer hat ihn reingelegt.

Nur gut, dass man in solchen Momenten Freunde hat. Micha und Wuschel tun so, als würden sie sich Gitarren umhängen, und hämmern hinreißend „Satisfaction“ von den Stones. Alle Akteure fallen singend ein und tanzen in der glänzenden Choreografie von Gundula Peuthert.

Vierfacher Liebhaber in einer Person

Regisseur Hillmann spielt souverän mit Klischees und Komik. Westonkel Heinz entdeckt beim Besuch im Osten Asbest in jeder Ritze – und stirbt selbst an Krebs. Der vermeintliche Stasi-Nachbar, der über seine Arbeit nicht spricht, entpuppt sich als Leichenbestatter. Die existenzialistische Malerin trägt schwarze Klamotten, schwört auf Sartre und nennt ihn zärtlich Jean Paul. Der rachsüchtige ABV gräbt sich mangels Englischkenntnissen selbst eine Grube. Die linientreue Direktorin bemerkt zu spät einen Streich ihrer Schüler und liest brav „Die Partei ist die Vorhaut der Arbeiterklasse“ von der Wandtafel ab. Michas wilde Schwester verliebt sich nacheinander in einen Genossen, Pastor, Schauspieler und Bergsteiger. Micha und sein Kumpel Mario urinieren volltrunken an die Mauer – Anspielung auf Brussigs Roman „Helden wie wir“, wo der Protagonist mit dem Penis die Mauer einreißt. Üble Stasi-Szenen, Angst vor der Einberufung zur Armee, Verrat innerhalb der Clique wechseln mit großen Gefühlen, erster Liebe und der Sehnsucht nach Freiheit. Auch die Banane als „heißbegehrteste Frucht der DDR“ fehlt nicht. Die Songtexte passen perfekt zu den Szenen.

Die Schauspieler leisten Großes. Stellvertretend seien drei genannt. Allen voran Richard Koppermann als furios spielender, singender und tanzender Micha. Leidenschaftlich als Liebender, prügelnd als enttäuschter Freund und zerrissen zwischen Anpassung und Widerstand. Überzeugend Gabriele Rothmann als gewitzte, pragmatische und klug taktierende Mutter. Vielseitig als vierfacher Liebhaber der Schwester Mirko Brankatschk. Minutenlanger Beifall und Füßetrampeln nach dem so heiter wie nachdenklichen dreistündigen Abend, der zünftig mit einem Feuerwerk endet.

Bis zum 28. Juli insgesamt 35 Vorstellungen im Hof der Ortenburg Bautzen. 75 Prozent Karten sind verkauft. Kartentelefon: 03591 584 225