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Steht mir diese Hautfarbe?

Ein bisschen Make-up kann den Blick auf die Welt ändern. Bei einem Kunstprojekt haben Prohliser Mittelschüler neue Identitäten bekommen.

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© André Wirsig

Von Doreen Reinhard

Isabell schminkt sich seit der fünften Klasse. Mittlerweile ist sie Profi und greift täglich, bevor sie das Haus verlässt, routiniert zu Wimpernspirale und Eyeliner. Normalerweise, um ihren Typ zu unterstreichen, den blassen Teint und das blonde Haar. Nun aber sitzt die 16-Jährige vor dem Spiegel und wartet darauf, dass ihr Typ gleich unter dicken Schichten Make-up verschwindet. Denn Isabell, die Mittelschülerin aus Dresden-Prohlis, soll sich in eine indische Frau verwandeln. Drumherum kichern die Klassenkameraden, gespannt, was erst mit Isabell und danach mit ihnen selbst geschehen wird. Andrés Haut wird dunkel getönt, Maries Pferdeschwanz unter eine Perücke aus schwarzem Kraushaar versteckt, und Alice, die Schöne mit dem meterlangen, wallenden Haar, bekommt ein strenges Kopftuch übergestülpt.

André hat sich nur zögerlich an den Schminktisch herangetraut, Isabell war immerhin mit den Utensilien bestens vertraut. Ein großes Abenteuer war die Verwandlung am Ende für beide.
André hat sich nur zögerlich an den Schminktisch herangetraut, Isabell war immerhin mit den Utensilien bestens vertraut. Ein großes Abenteuer war die Verwandlung am Ende für beide. © André Wirsig

„Stellt euch vor, ihr seid jemand vollkommen anderes“, mit diesem Satz hat am Morgen für zwei zehnte Klassen der 121. Mittelschule der Unterricht begonnen. Nicht Mathe oder Bio standen auf dem Stundenplan, sondern Angewandte Kunst. Der Däne Morten Nielsen ist mit seinem Projekt „Through different eyes“ angereist. Einer Performance, die den Blick auf die Welt verändern soll. Ganz praktisch und ohne viele Worte. Denn wenn man in eine fremde Haut schlüpft, gehen die Emotionen freiwillig mit. Davon hat sich der Künstler oft überzeugt, auch persönlich.

Er zeigt den Schülern einen Film von seiner ersten eigenen Verwandlung im Jahr 2008 – in einen Pakistaner. Eigentlich sei er in die Rolle damals nur für einen Dreh geschlüpft und habe sich so ausstaffiert, wie er sich einen Mann aus Pakistan eben vorstellt. „Ich hatte schwarz gefärbte Haare, einen buschigen Bart, Sonnenbrille, eine Goldkette“, erzählt Nielsen. Eigentlich ein Sammelsurium an Klischees, das aber einen erstaunlichen Effekt auslöste. Als er mit der Maske auch nach Drehschluss durch die Straßen ging, wurde er plötzlich von pakistanischen Männern angesprochen, die ihn für einen Landsmann hielten. Und es ging noch weiter. „Als ich in meinem Stamm-Gemüseladen in Kopenhagen einkaufen wollte, wurde ich von anderen Leuten gefragt, was die Tomaten und Gurken kosten“, sagt er. „Die meisten Gemüseläden bei uns in der Stadt werden nun mal von Pakistani betrieben.“ Das Thema ließ Nielsen nicht los, er vertiefte es zum Kunst-Projekt und ist damit schon durch ganz Dänemark getourt. Auch das größte Busunternehmen des Landes hat ihn gebucht, um für einen hauseigenen Konflikt zu sensibilisieren: Denn in der Führungsebene arbeiten ausschließlich Menschen mit heller Hautfarbe, die meisten Busfahrer dagegen sind dunkelhäutig. Zumindest für einen Tag wollte man mithilfe von kiloweise Schminke die ethnischen Rollen tauschen.

In der Prohliser Mittelschule sind verschiedene Nationalitäten Normalität, ja gehören sogar zum Programm, denn als Besonderheit wird das Fach „Deutsch als Zweitsprache“ angeboten. In den Klassen, die Lehrerin Angela Boschütz für die Kunstaktion zusammengetrommelt hat, sitzen Schüler, die aus Spanien, Afghanistan, Thailand und Russland stammen. Trotzdem war sie nicht sicher, wie viele Interessenten sich für die Verwandlungen melden. „Ich war skeptisch, ob ich ihnen das überhaupt zumuten kann.“ Teenagern, die gerade mit ihren eigenen Metamorphosen zu Erwachsenen beschäftigt sind. Aber die Lehrerin täuschte sich. Von den 40 Schülern war ein Drittel zum Make-over bereit, sechs wurden schließlich ausgewählt.

Auch weil es für sie in erster Linie ein Abenteuer ist, keine gesellschaftspolitische Lehreinheit mit erhobenem Zeigefinger. Isabell, die erste Kandidatin, lässt das Verwandlungs-Prozedere ohne große Aufregung über sich ergehen. Auf ihr Gesicht wird mit einer Airbrush-Pistole Make-up gesprüht, die Augenbrauen werden nachgedunkelt, Hals und Hände angemalt. Nach einer halben Stunde blickt sie ein fremdes Gesicht aus dem Spiegel an. Isabell lächelt überrascht zurück. Sie gefällt sich – und ihren Klassenkameraden. „Ey, das steht dir übelst gut“, ruft einer. Das Mädchen bedankt sich mit einem artigen Knicks und lächelt, schüchterner als vorher mit blonden Haaren, die noch nicht von einem Kopftuch verhüllt waren. Schnell kommen auch die anderen angelaufen und fangen den fremden Anblick mit Kaspereien ab. „Hey, Isabell, ich kaufe dich für zwei Kamele.“ Lachsalven schallen über den Flur.

Nur ein Mädchen findet die ganze Aktion gar nicht lustig. Die 17-jährige Laura beobachtet widerwillig, wie nun auch ihre Mitschüler André und Marie neue Gesichter bekommen, dunkelhäutige, die ihr nicht gefallen. „Nein, ich würde nicht so aussehen wollen. Ich bin stolz darauf, eine Deutsche zu sein“, sagt Laura. Ihr Haar soll bleiben, wie es ist, glatt und blond. Wenn es nach ihr ginge, würde es in Deutschland keine Ausländer geben, weder echte noch geschminkte. „Wir lassen schon genug in unser Land rein. Das ist meine Einstellung.“ Die haben einige ihrer Mitschüler zwar gehört, aber geflissentlich ignoriert. Und Lehrerin Angela Boschütz ist es wichtig, kurz darauf noch mal zu betonen, dass Rassismus in der Mittelschule nicht an der Tagesordnung sei. „Das sind Einzelfälle.“

Ganz offensichtlich, denn Künstler Morten Nielsen beendet seinen Unterricht zufrieden. Auch das indische Fräulein und der kraushaarige Herr laufen kurz vor der Mittagspause schwatzend durch die Schule und hätten fast vergessen, dass heute irgendetwas anders ist – wenn da nicht die fragenden Blicke der anderen wären.

Am Sonnabend von 12 bis 17 Uhr gastiert Morten Nielsen mit seinem Projekt „Through different eyes“ im Rahmen des Hellerauer Nordwind-Festivals im Hygienemuseum. Verwandlungswillige Dresdner sind willkommen.