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Thielemann ermahnt das Publikum

„Siegfried“ in der Semperoper in Dresden wurde ein Fest der Sänger und des Orchesters – gestört von angeheiterten Laboranten der Firma Euroimmun.

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© Matthias Creutziger

Von Bernd Klempnow

Dresden/Schönau-Berzdorf. Es kommt selten vor, dass sich ein Dirigent während der Vorstellung an die Zuschauer wendet. Am ehesten, wenn es um Zugaben geht. Manchmal reicht auch ein mahnender Blick. Und ein Christian Thielemann macht das schon gar nicht. Er weiß, vor allem wenn er Richard Wagner und Richard Strauss dirigiert, dass für gewöhnlich ein auf ihn fixiertes Publikum im Saale sitzt. Das schätzt ihn als unglaublichen Kenner dieser Musik, ist entsprechend hochdiszipliniert, fiebert mucksmäuschenstill dem ersten Ton entgegen, um dann mit der Musik abzuheben.

Anders am Sonntag in der Semperoper Dresden. Mit „Siegfried“ sollte eine weitere Oper des vierteiligen „Rings des Nibelungen“ wieder aufgenommen werden. Der „Ring“ war hier zwischen 2001 und 2003 herausgekommen – Thielemann studiert nach und nach alle Teile neu ein, um dann Anfang 2018 das Opern-Event in Gänze zu präsentieren. Nach „Walküre“ und „Rheingold“ nahm er sich jetzt mit einer faszinierenden Starbesetzung den „Siegfried“ vor.

Doch es war von Anfang an unruhig im Saal. Einige Gäste fanden ihre Plätze nicht, andere standen ewig in den Reihen. Noch schlimmer nach der ersten Pause: Das Saallicht war schon aus, da kamen glucksend immer noch welche herein. Längst wollte Christian Thielemann das ungewöhnlich ruhige Vorspiel zum zweiten Teil beginnen, aber es wurde nicht still. Ein Raunen schwebte über dem Parkett. Thielemann, die Hände schon zum Einsatz vor dem Körper, ließ sie sinken. Er drehte sich im Graben zum Publikum und bat eindringlich um Ruhe. Erst dann legten der Chefdirigent und seine Sächsische Staatskapelle los. Die Unruhe nach der zweiten Pause war noch größer. Doch Thielemann überging es, weil das Vorspiel zum letzten Teil dynamischer und kraftvoller ist. Er übertönte quasi die Störer.

Was war los? Die Firma Euroimmun, ein weltweit agierendes deutsches Unternehmen für Labordiagnostik, feiert derzeit in Dresden ihr 30-jähriges Bestehen. Ihr Gründer Winfried Stöcker, gebürtiger Oberlausitzer und Jahrgang 1947, seit 2013 Besitzer des Görlitzer Altstadt-Kaufhauses und 2014 mit Äußerungen über eingereiste Ausländer, die kein Recht hätten, „sich in Deutschland festzusetzen“ in den Schlagzeilen, ist Opernfan. Er wollte seinen Mitarbeitern das Beste zum Jubiläum bieten. Einige Hundert Mitarbeiter waren am Sonntag im „Siegfried“. Für den Montag hatte Stöcker die „Carmen“-Vorstellung gebucht.

Das Problem: Die Euroimmun-Leute wurden am Sonntag exklusiv im Kellerrestaurant bewirtet: schon vor der Vorstellung und während der beiden Pausen. Offenbar hat das viele sehr aufgekratzt. Deren Benehmen anschließend war inakzeptabel.

Um die zehn Mal pro Saison verkauft derzeit die Semperoper ihre Vorstellungen komplett an Interessenten. Vor Jahren geschah das noch öfter. Das Haus versucht so, seine Einnahmen zu steigern, weil der Zuschuss des Landes nicht einmal reicht, um die Personalkosten zu tragen. Überwiegend mieten Reiseveranstalter die Abende, die dann die Karten – mit ordentlichem Aufschlag – an in ihren Bussen anreisende Kulturtouristen vertreiben. Oder – in seltenen Fällen – wie jetzt, erwerben Unternehmen Aufführungen. Gern wird die leicht verdauliche „Zauberflöte“ gebucht, ganz, ganz selten schwere Stücke wie „Siegfried“.

Das ist das heikelste, komplexeste und beim Publikum am wenigsten geschätzte Stück der „Ring“-Tetralogie. Selbst Wagner-Fans quälen sich die ersten Stunden, bis die sphärisch beeindruckenden Stellen etwa vom Waldvogel und Brünnhildes Erwachen im Laufe des fünfstündigen Abends kommen. Schon Theodor Adorno schrieb: „Die unvergleichlich großartige Architektur des Siegfried jedoch hat ins öffentliche Bewusstsein überhaupt nie recht gefunden. Das Opernpublikum lässt ihn allenfalls als Kulturgut über sich ergehen.“

Warum also mussten die Labor-Experten ausgerechnet in dieses Stück? Für eine Stellungnahme war am Montag niemand von der Firma erreichbar, obwohl diese im ICC an der Elbe feierte. „Sie können am Mittwoch wieder anrufen“, ließ die Sprecherin ausrichten.

Größere Probleme gibt es bei diesen verkauften Vorstellungen normalerweise nicht. Aufmerksamkeit und Musikverständnis sind vielleicht nicht so hoch wie an anderen Abenden. Mitunter verlassen diese Gäste, die mehr am Gebäude als an den Vorstellungen interessiert sind, in der Pause, wenn sie Saal und Foyers gesehen haben, das Opernhaus. Hätten das doch die Feiernden auch mal getan. So störten sie eine Aufführung, die eine der schönsten der Saison hätte werden können. Denn Thielemann, das Orchester und die Solisten hatten exzellent das Stück geprobt. Jedes Detail saß, wurden bis dahin so in Dresden noch nicht gehörte und gesehene Aspekte herausgearbeitet.

Jede der acht Partien war überzeugend besetzt. Die Interpretationen von Gästen wie Stephen Gould als Titelheld und Gerhard Siegel als Mime scheinen derzeit kaum besser vorstellbar. Sie sangen jederzeit textverständlich und nuancenreich, sie spielten launig ihre schrägen Charaktere und gewöhnungsbedürftigen Monologe und Dialoge. Auch die beteiligten Dresdner wie Christa Mayer als Erda und George Zeppenfeld als Fafner waren allererste Wahl. Und als sich dann Nina Stemme nach weit über vier Stunden mit dem Orchester zu ihrem Brünnhilde-Höhenrausch „Heil dir, Sonne!“ aufschwang, raste das Herz.

Einhelliger, langer Jubel am Sonntag – auch in den Störerreihen –, viele Bravos selbst von den Musikern an die Sänger, die wiederum dem Graben dankten. Solche Momente gehören eigentlich festgehalten. Immerhin: Der komplette „Ring“ soll 2018 aufgenommen werden.

„Siegfried“ wieder am 26. und 29. Januar; Kartentelefon: 03514911705. Der komplette „Ring des Nibelungen“ unter Leitung von Christian Thielemann wird im Januar und Februar 2018 zweimal in der Semperoper zu erleben sein.