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Tödliches Feuer im Luisenhof

Vor 60 Jahren brannte der Balkon Dresdens. Eine junge Weltklasse-Sportlerin starb auf tragische Weise in den Flammen.

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© Archiv Naumann

Von Lars Kühl

Das Wunderkind hat es nicht geschafft. Mit nur 15 Jahren ist es tot. Plötzlich und unerwartet aus dem Leben gerissen. Die sportliche Karriere ist beendet, bevor die Schwimmerin ihren Namen dick unterstrichen in den olympischen Geschichtsbüchern verewigen konnte.

Schwimmerin Helga Voigt.
Schwimmerin Helga Voigt.

Helga Voigt, Jahrgang 1940, trainierte bei der Betriebssportgemeinschaft Dresden-Süd und lernte in der Kinder- und Jugendsportschule in Reick. Ein bescheidenes, höfliches Mädchen. Fleißig, sowohl beim Bahnenziehen in der Schwimmhalle als auch bei den Hausaufgaben. Der Mutter half sie gern im Haushalt. Als „Star“ fühlte sich Helga nie, schreibt die Sächsische Zeitung am 29. September 1956 in einem Nachruf. Dabei hätte sie allen Grund dazu gehabt. Die gebürtige Dresdnerin ist gerade zwölf Jahre alt, als sie 1953 erst überraschend DDR-Meisterin über 200 Meter Brustschwimmen wird und kurz darauf bei den Weltfestspielen in Bukarest starten darf. Die härtesten Gegnerinnen sind die Ungarinnen, angeführt von der Olympiasiegerin Eva Szekely, die ein Jahr zuvor in Helsinki Gold gewonnen hatte.

Helga Voigt, das hübsche, nette Mädchen, ist krasse Außenseiterin. Unbeschwert schwimmt sie ihren Wettkampf – und schlägt als Erste an. Die Weltelite ist besiegt, vom Wunderkind aus Sachsen. Die DDR-Regierung verleiht ihr den Titel „Meister des Sports“ und hofft, mit ihrem Namen weiteres Ansehen zu erringen.

Die Karriere kommt ins Rollen. 1954 knackt Voigt den DDR-Rekord über 200 Meter, wird erneut Landesmeisterin und startet mit einer Sondergenehmigung bei den Europameisterschaften in Turin. Ihr großes Ziel bleiben die Olympischen Spiele Ende 1956 in Melbourne. Genau in diesem Jahr stagnieren ihre Leistungen aber. In der Weltrangliste steht sie zwar auf einem respektablen siebten Platz, als Dritte der DDR-Meisterschaften verpasst sie allerdings die Qualifikation für das Olympiateam. Doch der 15-Jährigen bleibt die Zukunft. Bis sie in der Nacht zum 28. September 1956 keine Chance hat.

Der Tag ist gerade eine Dreiviertelstunde alt. In der Küche der damaligen HO-Gaststätte Luisenhof auf dem Weißen Hirsch ist an diesem Freitag längst Ausgabe- und Ausschankschluss. Plötzlich züngelt es in einem Abfallkasten, in dem Papier liegt, aber auch Zigarettenreste geworfen wurden. Aus der Flamme wird ein Feuer. Der Pförtner entdeckt es. Der Restaurantleiter ist ebenfalls noch da. Gemeinsam versuchen die beiden, den Brand zu löschen – erfolglos (SZ vom 29. September 1956).

Im Balkon Dresdens, wie das bekannte Ausflugslokal auch genannt wird, schlafen um die Zeit Menschen: die Familie Voigt. Als der Pförtner und der Leiter sie wachklingeln, beginnt der Wettlauf mit dem Tod. Das Feuer hat sich rasend ausgebreitet, frisst sich in die Möbel und durch hölzerne Wandverkleidungen. Giftiger Rauch zieht durch den Luisenhof.

Die verständigte Feuerwehr trifft mit sieben Löschzügen kurz nach 1 Uhr ein. Durch das Treppenhaus können die Bewohner nicht ins Freie flüchten. Die Kameraden fahren eine Drehleiter aus und bringen sie auf diesem Weg in Sicherheit. Eine Angestellte des Luisenhofes rettet sich selbst. Doch eine fehlt.

Helga Voigt schläft in einem oberen Zimmer. Durch den Speiseaufzug zieht der Rauch dorthin. Funken schlagen und glimmen sich durch die Holzdielen. Die Schwimmerin versucht, nach unten zu kommen. Sie schafft es nicht einmal bis zum Treppenabgang. Hinter einer verschlossenen Tür bricht sie zusammen. Vier Feuerwehrmänner sind auf dem Weg zu ihr, kämpfen sich ohne Schutzgeräte durch das brennende Haus, ihre Klarsichtscheiben und Atemschläuche waren in der mörderischen Hitze zusammengeschrumpft. Lediglich ihre Kleidung haben die Kameraden vorher nass gespritzt. Als sie Helga Voigt finden, lebt sie noch.

Mit ihrer Schwester Eva, ihrer Mutter und der Angestellten wird sie ins Friedrichstädter Krankenhaus gebracht. Während die anderen bald wieder gehen können, kämpfen die Ärzte um die Schwimmerin. Vergeblich. Später vermuten sie, dass die Sportlerin einen Kehlkopfkrampf bekam. Die Rauchvergiftungen sind zu stark, Helga Voigt stirbt am 28. September 1956.

Während die Küchenräume, die Eingangshalle und Teile des Obergeschosses ausbrannten, blieben die Speisesäle, die Tanzbar und der Balkon fast unversehrt. Trotzdem war der Sachschaden hoch. Der Luisenhof blieb bis April 1957 geschlossen.

Die deutsche Sportlerszene und die Dresdner standen unter Schock. Später erhält das Wilsdruffer Freibad den Namen Helga Voigt. Dort und im Sachsenbad gibt es jahrelang Wettkämpfe zu ihrem Gedenken. Bei der Beerdigung von Helga ist auch Eva-Maria ten Elsen unter den Trauergästen – jene Schwimmerin aus Leipzig, die ihr das Olympiaticket „weggeschnappt“ hatte. Einen Monat später gewinnt sie am 30. November 1956 die Bronzemedaille – ein wenig auch für Helga Voigt.