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Unerkannt durch Freundesland

Als die DDR im Sterben liegt, begeben sich fünf Sachsen auf eine verbotene Reise. Die führt nicht in den Westen, sondern tief in die Sowjetunion. 25 Jahre später treffen sich drei von ihnen in Radebeul wieder.

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Von Benjamin von Brackel

Michael Herold tritt aus dem Gemeindehaus der Lutherkirche in Radebeul. Drei, vier Schritte auf den mit Regen vollgesogenen Schotterweg. Dann wartet der 47-Jährige. Sein Blick sucht einen Halt. Er wartet auf jemanden, den er fast ein Vierteljahrhundert nicht gesehen hat. Einer von vieren, mit denen er im Wendejahr 1989 zu einer verbotenen Reise aufgebrochen war. Es ging in jenem Sommer nicht um eine Flucht aus der darbenden DDR. Vielmehr war der ganz tiefe Osten ihr Ziel, der 5.100 Meter hohe Pik Energie in der Sowjetrepublik Tadschikistan. Es sollte die Reise ihres Lebens werden.

25 Jahre nach ihrer verbotenen Reise treffen sich Andreas Friedel, Nick Reimer und Michael Herold (von links) in Radebeul wieder. Vom Vierten im Bunde haben sie jede Spur verloren, der Fünfte hat sich das Leben genommen.
25 Jahre nach ihrer verbotenen Reise treffen sich Andreas Friedel, Nick Reimer und Michael Herold (von links) in Radebeul wieder. Vom Vierten im Bunde haben sie jede Spur verloren, der Fünfte hat sich das Leben genommen. © Robert Gommlich
Für das Vorhaben „Unerkannt durch Freundesland“ mussten die fünf Hobbybergsteiger eine Vielzahl von Dokumenten vorlegen. Das ein oder andere wurde gefälscht, um den Pik Energie in Tadschikistan zu erreichen.
Für das Vorhaben „Unerkannt durch Freundesland“ mussten die fünf Hobbybergsteiger eine Vielzahl von Dokumenten vorlegen. Das ein oder andere wurde gefälscht, um den Pik Energie in Tadschikistan zu erreichen. © Robert Gommlich

Im sächsischen Freiberg wuchs das Quintett auf. Erzgebirge, Sächsische Schweiz, Riesengebirge, Hohe Tatra, Karpaten – ein Gebirge nach dem anderen nahmen sie sich Jahr für Jahr vor. Irgendwann hatten sie alle erreichbaren Berge durch. „1988 war Schluss“, erzählt Nick Reimer, der aus Berlin angereist ist. „Die Welt war für uns zu Ende.“

Schließlich war es nicht nur verboten, in den Westen zu reisen, sondern auch in den Osten. In die Sowjetunion, wo die ersehnten Gebirgsriesen lagen, durfte man nur auf Einladung oder als Mitglied einer Reisegruppe. Auf eigene Faust zu reisen, das war im Sozialismus nicht vorgesehen.

Sie waren eine Gruppe von fünf Bergverrückten, allesamt Anfang 20. Sie sehnten sich nach der Weite und richtigen Bergen. „Wir wollten den Berg, den es nicht gab“, sagt Reimer. Damals fiel ihm ein Buch mit Gebirgsfotografien in die Hände. Es zeigte die Gipfel und Felswände im Kaukasus. Da ahnten sie, was Freiheit bedeuten könnte.

Die Reise blieb vorerst ein Gedankenspiel. Es erschien ihnen zu riskant, sich ohne Erfahrung ins Hochgebirge zu begeben, ohne Ausrüstung und Papiere. Was, wenn der Staat sie als Republikflüchtlinge oder Spione betrachten, das Studium verwehren und weitere Reisen verbieten würde? Also drückte die Clique weiter die Bänke in den Hörsälen und begnügte sich mit den Gipfeln, die sie bereits kannten.

Eines Abends aber, im rumänischen Fagaras-Gebirge in Siebenbürgen, hört Nick Reimer jemanden hinter sich: „Kann ich mich ans Lagerfeuer setzen?“ Ein Dresdner. Der ist ein paar Jahre älter und erzählt von seinen Reisen ins Tienschan- und Altai-Gebirge. „Da gibt’s so Wege. Ich schicke euch mal was.“ Er meint: handgezeichnete Karten, die in der Szene Kultstatus haben. Und er erzählt von einem Schlupfloch, um Osteuropa zu verlassen: dem Transitvisum. Das gilt zwei Tage und erlaubt, die Sowjetunion zu passieren. Aber ist man erst mal dort … „Was die schaffen, schaffen wir auch“, denken sich die fünf.

Um die Ecke der Radebeuler Lutherkirche kommt ein Mann: blonde, halblange Haare, rosa Hemd, Tuch um den Hals. Er ruft: „Der Michael!“ Umarmung, Grinsen. „25 Jahre!“, sagt der eine. „Hast dich gar nicht verändert, ein paar graue Haare“, sagt der andere.

Im Gemeindehaus, in dem Kirchenmitglied Michael Herold ein Zimmer für den Dia-Abend gemietet hat, wartet mit Andreas Friedel der Dritte aus der Gruppe von einst. Kariertes Hemd, randlose Brille, Kurzhaarschnitt. Wieder Umarmung, ein wenig nervöses Lächeln. Auch den Vierten von damals hat Reimer versucht aufzutreiben, vergeblich. Nach dem Fünften musste er nicht mehr suchen, das wusste er vorher.

Vorsichtiges Abtasten. Was machen die Geschwister, die Eltern? Geht ihr noch in die Berge? Als der Diaprojektor einen Lichttrichter durchs Dunkel wirft, sind die drei sofort wieder im August 1989.

„Das ist …“ Friedel versucht einen jungen Mann im rosa T-Shirt, mit Bart und freundlichem Gesicht zuzuordnen. „Das ist Frank“, sagt Reimer ernst. Für einen Moment surrt nur der Projektor. „Das ist Frank“, wiederholt Herold.

Im Frühjahr 1989 planen die fünf Studenten die Reise. Sie basteln sich Brustgurte aus Kletterseilen, schreiben einem Dreher in Polen, der Eispickel baut, und beschaffen sich Karten aus Zeichenpapier, die Friedel auf Packpapier abmalt. Auf einem Robotron-Computer schreibt er ein Programm, um die 30-Tagesvisa zu fälschen. Aus dem Sozialversicherungsbuch schneiden sie mit einer Rasierklinge die letzte Seite heraus, auf der ein Wasserzeichen abgebildet ist. Darauf drucken sie die gefälschten Visa. Mit einem Geländelauf über 124 Kilometer in 24 Stunden prüfen sie sich selbst: Haben wir den Willen, das durchzuziehen?

Das offizielle Zwei-Tages-Visum, um über die Sowjetunion nach Bukarest zu reisen, bekommen sie ohne Probleme. Sie buchen im Reisebüro die Zugfahrt nach Charkow in die Ukraine. Dort wollen sie sich absetzen. Nur die Eltern und die Freundinnen sind eingeweiht; zu groß ist die Gefahr, dass ein Spitzel im Freundeskreis sie verrät. Die Eltern versuchen noch, ihnen die Idee auszureden, fahren ihre Söhne dann aber doch zum Bahnhof. Die fünf hieven ihre 30 Kilogramm schweren Rucksäcke in den Waggon. Im Gepäck: Wurstkonserven, Trockenbrot, Zelte, Baumwollschlafsäcke und Benzinkanister für den Kocher.

Die Stimmung ist unbeschwert, aber sie rechnen mit Schikanen. Fürs Erste hoffen sie, dass die Grenzer ihre Steigeisen und Eispickel nicht finden. Kronen und Rubel haben sie in die Unterhosen gesteckt. Über Prag fahren sie nach Charkow. Dort steht der Zug nach Tadschikistan schon im Bahnhof, er soll am nächsten Tag um zwei Uhr losfahren. Nachdem sich zwei der Freunde am Fahrkartenschalter durch die Masse gedrängelt haben, kontrolliert eine Beamtin die Durchgangsvisa. „Hier stimmt was nicht“, raunzt sie. „Zur Miliz!“

Sie verlassen den Bahnhof im Eilschritt. Erst Stunden später wagen sie sich wieder in die Halle, aber dieselbe Beamtin sitzt immer noch am Schalter. Die Gruppe verliert den Mut. Sie übernachten in einem verwilderten Park. Am nächsten Tag beschließen sie, es drauf ankommen zu lassen und steigen ohne Fahrkarte in den Zug.

Sie sprechen den Schaffner auf Russisch an, ob er sie mit nach Taschkent nehmen könne? „Er nimmt mich zur Seite – 50 Rubel für alle!‘“, notiert sich Friedel später in seine Kladde. Eine Schachtel Kent-Zigaretten und eine Seife mit dem Duft „Grüner Apfel“ besänftigen den Schaffner. Auf der Fahrt lädt er die fünf sogar zu geräuchertem Fisch und Bier ein. „Hundert Prozent Moral für alle wieder da“, schreibt Friedel. Im Abteil der dritten Klasse sind acht Holzpritschen auf drei Etagen verteilt. Überall Gepäck, die Fenster klemmen, es ist stickig. Sie fahren über die Wolga. 82 Stunden dauert die Fahrt, Tausende Kilometer in den Osten. An Kornfeldern vorbei, Dörfchen, Laubwäldern. Die Landschaft wird karger, irgendwann zur Steppe. Knorrige, skurril verwachsene Bäume, Jurten und Kamele.

Von Taschkent über Samarkand fahren sie mit dem Bus ins Fan-Gebirge. Dort treffen sie auf die UDF-Szene. Das Kürzel steht für „Unerkannt durch Freundesland“. Es sind Bergsteiger aus Osteuropa, die so in eigentlich für sie verbotene Regionen klettern. Als das Quintett den Pik Energie entdeckt, erscheint er ihnen überwältigend und bedrohlich zugleich. Wie ein Pfeil ragt der 5 113 Meter hohe Riese in den Himmel. Oben liegt Schnee, was die fünf jungen Männer verwundert. Hier unten haben sie kurze Hosen an. Zum ersten Mal in ihrem Leben stehen sie vor einem Gletscher.

Drei, vier Tage marschieren sie bis auf 3.500 Meter Höhe zum „Mutnyje Oser“, dem „Trüben See“, in dem sich die Felswände spiegeln. Die Sonne brennt so stark, dass sie sich Tücher um die Köpfe wickeln. Kein Baum, kein Felsvorsprung. Sie steigen über Schotter und Geröll, die Luft wird dünner. Sie bauen ihr Basislager auf. Abends sitzen sie am Lagerfeuer und blicken in einen so klaren Sternenhimmel, wie sie es noch nie gesehen haben.

An den nächsten Tagen steigen sie weiter, testen die Eisschrauben auf einem Schneefeld. Dann nehmen sie zu dritt den Gipfel in Angriff. Mit Seilen verbunden, klettern sie über die schräg aufragenden Eisfelder. Auf dem Gipfel: Berge, so weit das Auge reicht. Stille. Sie sind erschöpft, aber glücklich. Sie haben es geschafft.

Auf dem Rückweg hören sie einen Knall. Und sehen, wie ein Teil des Gletschers abbricht, exakt dort, wo sie zuvor für den Aufstieg geübt hatten. Ihnen läuft ein Schauer über den Rücken. „Schwein gehabt, Alter!“, rufen sie sich zu.

Im Gemeindehaus in Radebeul wechseln die Bilder auf der Leinwand: ein Eselskarren, ein Bach, über den einer der fünf springt, Felsen, auf denen sie posieren, strahlende Gesichter. „Ich wusste gar nicht, dass Frank tot ist“, sagt Herold mit einem Mal. Er hat es erst an diesem Abend erfahren.

Die Wende hatte die Gruppe auseinandergerissen, nach der Einheit verloren sie sich aus den Augen. „Das war nicht ungewöhnlich für die Zeit“, sagt Friedel. „Aber ich find’s trotzdem überraschend: Ihr wart immerhin meine besten Freunde damals!“, erwidert Reimer. „Willst du dich jetzt beschweren?“, fragt Friedel. Schließlich sei die politische Wende auch „eine Wende in Sachen Freundschaft“ gewesen. Familien und Bekanntenkreise brachen auseinander. Friedel etwa ging nach Stuttgart, dann nach Freiburg, wurde dort Werksleiter bei einem Maschinenbauunternehmen. Reimer reiste als Journalist von Berlin aus durch die Welt. Herold plante in Leipzig und Dresden Trafostationen und Signalanlagen für die Bahn, baute ein Haus in Radebeul und zog vier Kinder groß.

Frank Eidner war nach Wien gegangen. Er hatte kein Glück dort, fand keinen Anschluss, keine Freundin, verlor seinen Job. Er kehrte ins Elternhaus nach Freiberg zurück. Bis er es nicht mehr aushielt. Friedel erinnert sich an ihn als einen, der zu allem eine fest gefügte Meinung hatte. Wie bei den meisten richtete die sich gegen die Regierung, die ihr Volk einsperrte und die Wirtschaft zugrunde richtete. Sie diente aber auch als Fixpunkt. Als Orientierung.

Das sei nach der Wende entfallen, glaubt Friedel. Man habe sich von heute auf morgen mit einer eigenen Meinung behaupten müssen. Doch die von Frank habe niemanden interessiert, schließlich hätte jeder mit sich selbst zu tun gehabt. Friedel stellt sich das vor wie mit einem Skifahrer auf der Piste, der in die Wolken gerät und nicht mehr weiß, ob es den Berg hoch oder runter geht. „So ging’s vielen“, sagt er. „Wer nicht suchen konnte, der hatte es schwer.“

Auf dem Rückweg vom Pik Energie 1989 fahren sie mit dem Zug über Prag nach Dresden zurück. Sie rechnen mit Verhören, sogar mit Haft. Aber schrecken kann sie das jetzt nicht mehr, nach allem, was hinter ihnen liegt. Die Freunde sind stolz, die Freiheit erobert zu haben. Sie haben gelernt, dass die Welt nicht gleich untergeht, wenn man sich an der Grenze des Unerlaubten bewegt. Als sie in Prag in den Zug steigen, merken sie, dass etwas nicht stimmt. Auf der Strecke bekam man sonst nur schwer einen Sitzplatz, jetzt stehen sie vor fast leeren Abteilen. „Die gehen alle in die bundesdeutsche Botschaft“, erzählt ihnen der Schaffner. Seit dem Aufbruch der fünf vor einem Monat ist viel passiert. Was das heißt, können sie in dem Moment gar nicht überblicken. Das Einzige, woran sie in dem leeren Zug denken, ist der saubere Schlafwagen, das fließende Wasser und die Familien, die in Freiberg auf sie warten.