Was macht Corona mit der Seele?

Strenge Ausgangsbeschränkungen liegen hinter uns, auch Schüler kehren schrittweise wieder in den Unterricht zurück, sogar Museen dürfen wieder öffnen, in Kürze auch Hotels und Gaststäten. Und dennoch: eine Rückkehr zum Normalzustand ist nach wie vor nicht in Sicht. Welche Auswirkungen haben die letzten Wochen und hat die Unsicherheit im Hinblick auf die Zukunft auf unsere Psyche? Sächsische.de sprach mit Dr. med. Lutz Beese, Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Helios Klinikum Pirna.
Herr Dr. Beese, ein Großteil der Bevölkerung lässt die Zeiten von Ausgangsbeschränkungen und häuslicher Isolation hinter sich. Gehen solche Einschränkungen an den Menschen spurlos vorbei?
Ausgangsbeschränkungen und Quarantäne waren meiner und den mir nachfolgenden Generationen bisher nur aus Geschichtsbüchern oder Filmen bekannt. Die Konfrontation mit dem uns Neuen und Unbekannten geht an uns nicht spurlos vorüber. Der Mensch als soziales Wesen benötigt soziale Kontakte, soziale Anerkennung und Gemeinschaft, wodurch er sich sicherer, stärker, kompetenter und behüteter fühlt.
Welche psychischen Folgen könnten die heruntergefahrenen sozialen Kontakte haben?
Wenn Kontaktmöglichkeiten plötzlich und drastisch reduziert werden, was bis hin zu einer vollständigen häuslichen Isolation Alleinlebender, insbesondere älterer Menschen, reicht, so kann es zu Gefühlen der Verlassenheit, zu Rat- und Hilflosigkeit, zu Zukunftsängsten sowie zu depressiven Symptomen kommen.
Wie gehen Menschen mit dem derzeit eingeschränkten Leben um?
Aktuell werden dabei zwei gegensätzliche Tendenzen deutlich. Im Alltag zeigt sich, dass ältere Menschen den täglichen Einkauf als wichtiges und hilfreiches Ritual einsetzen, um soziale Isolation und unspezifische Angst zu vermindern – obgleich die daraus resultierende menschliche Nähe die Epidemiologen in Unruhe versetzt. Gleichzeitig auffallend ist, dass die Mehrzahl der Menschen die ihnen auferlegten Einschränkungen akzeptiert und lernt, positive Aspekte darin zu finden.
Was kann denn daran positiv sein?
Herausgerissen aus dem ICE des bisherigen Alltags sind wir gezwungen, den Hochgeschwindigkeitszug abzubremsen und uns, unsere Familie und unser Umfeld wieder in Echtzeit wahrzunehmen und somit nicht mehr von Höhepunkt zu Höhepunkt hasten zu müssen. Im positiven Fall resultiert daraus wieder mehr Nähe in der Partnerschaft, Eltern und Kinder kommunizieren mehr miteinander und verbringen gemeinsam mehr Lebenszeit in der Familie. Das kann dazu führen, dass man seinen Partner beziehungsweise die Kinder aus einer neuen und ruhigeren Perspektive wahrnimmt.
Aber birgt zu viel Nähe nicht auch Konfliktpotenzial?
Ja, im negativen Fall driften Partnerschaften auseinander. Aggressivität, verbale Attacken und häusliche Gewalt in den Familien können zunehmen. Es besteht die Gefahr, dass unterschwellige Konflikte und Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Familie aufflammen, was dazu führen kann, dass die Beziehungen labiler werden.
Wie entgeht man solch drohenden Konflikten?
Miteinander spielen, Sport treiben, gemeinsam lachen oder mal einen Film zusammen anschauen, kann dabei helfen, sich in der Familie auch gefühlsmäßig wieder näher zu kommen. Hilfreich können auch erste Planungen für den nächsten gemeinsamen Urlaub sein, um unseren Blick nach vorn auf die Zukunft zu richten, weg von der Virus-Problematik, wo es um Krankheit sowie Infektions- und Todesraten geht.
Wie wichtig sind strukturierte Tage?
Sehr wichtig. Gerade in der gegenwärtigen Situation sollten Familien, deren Kinder noch nicht wieder in Schule und Kindertageseinrichtung zurückdürfen, versuchen, eine Tagesstruktur mit gemeinsamen Mahlzeiten und innerfamiliären Aktivitäten aufrechtzuerhalten. Wichtig für eine Struktur ist darüber hinaus, dass die sozialen Kontakte zu Verwandten und Freunden mittels Telefon und anderer moderner Medien weiter gepflegt werden.
Welche Ängste gehen mit der derzeitigen Situation einher?
Die aktuelle Infektionsgefahr und die derzeitigen Regelungen für unseren Alltag können bei jedem Einzelnen Ängste unterschiedlichster Art auslösen, von der Existenz- und Zukunftsangst, der Angst vor dem Kontrollverlust bis hin zu der Angst, schwer zu erkranken oder gar an einer Corona-Infektion zu sterben.
Sind manche Menschen dafür anfälliger als andere?
Derartige Ängste können sowohl psychisch und körperlich Gesunde betreffen, aber auch bei psychisch Kranken oder an Depressionen leidenden Menschen zu Lebenskrisen führen und sie existenziell verunsichern.
Kann zu dieser gefühlten Verunsicherung noch etwas hinzukommen?
Ja, zunehmend problematisch wird neben diesen gefühlten Ängsten auch die reale Angst, durch fehlende Arbeitsmöglichkeiten sich zu verschulden oder zahlungsunfähig zu werden, oder die reale Angst, seine bisherige Lebensplanung zu verlieren. Dies betrifft insbesondere Klein- und Kleinstunternehmer, Künstler sowie Selbstständige, die um ihre Existenz bangen müssen.
Ist zu befürchten, dass sich deren Ängste manifestieren?
Besonders für die genannte Gruppe besteht die Gefahr, dass – abhängig von der Dauer der Einschränkungen – Gefühle der Hilf- und Hoffnungslosigkeit und der Resignation ihr Denken zunehmend beherrschen und – gepaart mit Gefühlen der Ausweglosigkeit – verzweifelte Gedanken entstehen oder sich verstärken können.
Wo finden diese Menschen Hilfe?
Im Landkreis gibt es vielfältige Anlaufstellen für Menschen mit Angst und psychischen Problemen. Schon seit Ende März hat das Landratsamt ein Beratungstelefon für Menschen in psychischen Belastungssituationen eingerichtet, an dem sie von geschulten Mitarbeitern bezüglich des Umgangs mit Problemen, Sorgen und Ängsten beraten werden. Erreichbar ist das Telefon montags bis freitags jeweils von 8 bis 20 Uhr unter der Nummer 03501 5152388.
Gibt es noch weitere Hilfsangebote?
Schon seit vielen Jahren gibt es den Sozialpsychiatrischen Dienst im Landkreis, der hilfebedürftige psychisch Kranke zuhause aufsucht und ebenfalls über das Landratsamt zu erreichen ist.
Und in der Klinik?
Im medizinischen Versorgungszentrum und in der Psychiatrischen Institutsambulanz im Pirnaer Klinikum an der Struppener Straße arbeiten Psychiater, um Menschen in seelischer Not zu helfen und zu unterstützen. Auch die Notfallambulanz unserer Klinik arbeitet ungeachtet der Corona-Pandemie weiterhin 24 Stunden an sieben Tagen pro Woche und ist damit rund um die Uhr für Hilfesuchende erreichbar.
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