SZ +
Merken

„Betriebe wurden verramscht“

Marlies Sollwedel sitzt seit 1986 im Dorfhainer Gemeinderat. Wie bewertet sie 25 Jahre deutsche Einheit?

Teilen
Folgen
NEU!
© Karl-Ludwig Oberthür

Dorfhain. Sie lernte Stenotypistin, war Industriekauffrau und Ingenieurökonomin. Mitte der 80er-Jahre trat Marlies Sollwedel in die SED ein, die später zur PDS wurde und heute Die Linke heißt. Die gebürtige Dresdnerin lebt seit 1980 in Dorfhain. Dort war sie Friedensrichterin und ist bis heute Vorstandsmitglied des Kindervereins. Seit fast 30 Jahren sitzt die 71-Jährige im Gemeinderat. Die SZ sprach mit ihr über die SED, über fragwürdige Vorschriften – und darüber, was sich in den letzten 25 Jahren seit der Wiedervereinigung verändert hat.

Frau Sollwedel, was halten Sie eigentlich von dem Wort „Wende“?

Damit habe ich kein Problem. Aber die Begriffe Ossi und Wessi mag ich überhaupt nicht. Ich finde das diskriminierend. Generell spreche ich nicht mehr gern über diese Umbruchszeit. Vieles war so ungerecht, viele Betriebe wurden einfach verramscht. Viele Menschen hatten es schwer – und haben es noch immer nicht leicht.

Was war der Auslöser, dass Sie sich 1986 zur Gemeinderatswahl stellten?

Es gab eigentlich keinen Anlass. Ich wurde gefragt, ob ich mitmachen möchte, weil ich im Dorf auch vorher schon aktiv war. Ich habe zum Beispiel die Gemeindebücherei geführt. Das war schön, da wurde viel gelesen. Ab 1990 gab es dann Wahllisten, da bin ich für die PDS angetreten.

Hat sich die Arbeit im Gemeinderat in den vergangenen 29 Jahren verändert?

In Dorfhain geht es nicht um Parteien oder Fraktionen. Da geht es auch nicht um persönliche Befindlichkeiten, sondern allein um die Sache. Das war vor der Wende so und so ist es noch heute. Wir achten uns gegenseitig. Ich denke aber, dass eine Partei, die NPD, uns sehr weh tun würde. Aber die ist ja zum Glück bisher nicht in Sicht.

Wie haben Sie die Wende in Dorfhain erlebt?

1990 war ich noch berufstätig. Im Betrieb, dem VEB elektronische Bauelemente, hat man diese Stimmung, dass etwas in der Luft liegt, eher bemerkt als im Privaten. Die Menschen waren mit vielem unzufrieden. Wenn es dann zum Beispiel um die Planerfüllung ging, wurden die Bilanzen gefälscht. Es wurde gelogen. Das wussten die Leute und das hat sie kaputt gemacht.

Was hat die Wende für Sie persönlich bedeutet?

Die habe ich in meinem Betrieb nicht mehr erlebt. Ich bin 1990 als „sozialistische Hilfe“ bei der Sparkasse in Freital eingestiegen und habe dort die Kunden-Anträge für die Währungsreform sortiert. Nicht bearbeitet! Ich hatte Glück, bis zum Ruhestand 2004 konnte ich bei der Sparkasse bleiben.

Warum sind Sie in die SED eingetreten?

Das war Mitte der 80er-Jahre. Ich bin nicht eingetreten, um irgendwo Karriere zu machen. Den Ausschlag gab ein Erlebnis beim Urlauberaustausch in Polen. Dort fanden Protestmärsche statt. Die waren nicht von der Solidarnosc organisiert, wirkten aber bedrohlich. Es war wie Krieg und ich hatte große Angst um meine Kinder. Meine Mutter hatte nach dem 13. Februar 1945 nur noch mich und meinen Kinderwagen. Mein Vater war im Krieg und wir waren ausgebombt. Vor so einem Geschehen wollte ich meine Kinder bewahren, indem ich mich parteipolitisch engagierte.

Haben Sie jemals bereut, Mitglied der Einheitspartei gewesen zu sein?

Nein, ich habe es ja freiwillig gemacht. Immer, wenn ich vorher im Betrieb zum Gespräch gebeten wurde, habe ich abgelehnt. Deshalb kam es für mich in der Wendezeit auch nicht infrage, wieder auszutreten. Ich habe niemandem geschadet, sondern wollte etwas für die Menschen erreichen. Die, die sich nach der Wende gedreht haben, habe ich nie so richtig verstanden. Ich habe mich jedenfalls nie verbogen.

Sie haben gesagt, dass die Politiker in der DDR viel gelogen haben. Ist das heute noch so?

Ja, das glaube ich. Und zwar, weil sie nicht anders können. Die Wirtschaft, die das Kapital hat, bestimmt sicher auch viel über die politische Agenda mit.

Woran machen Sie das fest?

Es werden Gesetze erlassen, bei denen man denkt: Das kann doch nicht wahr sein. Zum Beispiel das Hartz-IV-Gesetz. Das ist so menschenunwürdig. Mich stören nach der Wende die vielen Formulare, die man ausfüllen muss. Auch für die Kinder. Der BAföG-Antrag zur Studienförderung etwa ist furchtbar. Und so undurchsichtig.

Hat denn der Papierkram seit 1990 auch in der Kommunalpolitik zugenommen?

Ja. Und die Inhalte sind komplexer geworden. Da bin ich sehr froh über unsere Verwaltungsmitarbeiter in Dorfhain und Tharandt. Manchmal gibt es auch Vorschriften, etwa beim Geräte-Tüv auf Spielplätzen, die versteht man kaum. Der Punkt aber ist: Die Bürokratie raubt Lebenszeit. Weil es keine qualitativ hochwertige Zeit ist.

Bundespräsident Richard von Weizsäcker hat 1990 gesagt: Sich zu vereinen, heißt teilen lernen. Ist das gelungen?

Im Wesentlichen ja. Manchmal tun mir aber auch die alten Bundesländer leid, weil in den neuen viel mehr gebaut und saniert wurde. Das ist doch eigentlich nicht in Ordnung. Ich bin so froh, dass es die Grenze nicht mehr gibt. Leider können sich die Reisefreiheit nun viele Bürger nicht leisten, weil ihnen das Geld fehlt.

Das Gespräch führte Franz Werfel.