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Volkszorn der Ahnungslosen

Westfernsehen für alle – oder es knallt! 1984 drohten Unbekannte, den Dresdner Fernsehturm zu sprengen. Die Stasi suchte jahrelang nach den Erpressern.

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© Robert Michael

Von Heinrich Maria Löbbers

Bei Olympischen Spielen hört der Spaß auf. Die will man sehen, selbst wenn die eigenen Leute nicht dabei sind. Weil aber die DDR so wie die Sowjetunion die Spiele in Los Angeles 1984 boykottierte, wurde auch nichts im Fernsehen übertragen. Blieb nur das Westfernsehen. Das brachte viele in Rage. „Eine Nichtteilnahme an Olympia berechtigt den Staat nicht, seine Bürger nicht zu informieren“, so stand es in einem Brief, der im Sommer ’84 bei den Behörden einging. Und: „Bitte diese Maßnahme zu überprüfen.“ Unterschrieben hatte „Ein DDR-Bürger aus dem Tal der Ahnungslosen“.

Zusammengeklebt: Das erste Erpresserschreiben vom 18. Juli 1984.
Zusammengeklebt: Das erste Erpresserschreiben vom 18. Juli 1984. © Repro: Ronald Bonß
Mit Schablone: Das zweite Schreiben vom 8. November 1984.
Mit Schablone: Das zweite Schreiben vom 8. November 1984. © Repro: Ronald Bonß

Solcherart Beschwerden gab es immer wieder mal in jenen Jahren, als es vor allem im Raum Dresden nur schwer möglich und offiziell unerwünscht war, Westsender zu empfangen. Der Brief, der am 18. Juli 1984 beim Staatsrat der DDR eingeht, versetzt jedoch die Staatssicherheit in höchste Alarmbereitschaft, inklusive der Arbeitsgruppe XXII, zuständig für „Terrorabwehr“.

Wie im Krimi zusammengeklebt aus Tageszeitungs-Schnipseln steht in dem Schreiben: „Wir drohen mit Gewalt“. Die Rede ist von „Forderungen, denen keiner ausweichen kann“. Wenn es nicht bis zum November auch in Dresden „BRD Rundfunk- und Fernsehprogramm“ gebe, sei man „Bereit zum sprengen“. Und zwar den Fernsehturm in Dresden und den UKW- Sender Löbau. Verantwortlich zeichnet die „Gruppe Volkszorn“.

Ein schlechter Scherz? Für die Staatssicherheit keineswegs, sie beginnt sogleich mit dem Operativen Vorgang „OV Turm“. „Die Stasi hat das von Anfang an sehr ernst genommen und alle Hebel in Bewegung gesetzt“, sagt Sebastian Lindner von der Stasi-Unterlagenbehörde in Dresden. In mühsamer Kleinarbeit hat er die Unterlagen des „OV Turm“ ausgewertet: zehn Aktenbände mit zusammen fast 3  000 Seiten. „Das ist zweimal Tolstois ,Krieg und Frieden‘“, sagt Lindner. „Oder dreimal ,Der Turm‘ von Uwe Tellkamp.“ Der berühmte Roman hat zwar nichts mit der Bombendrohung zu tun, es zeigt sich jedoch, wie symbolträchtig der Begriff für Dresden ist. Um den Fernsehturm ranken sich unzählige Geschichten, immer wieder sorgt er für Diskussionen. Zuletzt gab es eine Online-Petition zur Wiederöffnung des seit 25 Jahren geschlossenen Bauwerks.

Damals aber, 1984, herrscht reger Besucherandrang in dem stolzen Turm am Elbhang in Wachwitz. „Es lohnt sich ein großes Aufgebot, um Klärung vor dem 35. Jahrestag der DDR herbeizuführen“, heißt es denn auch in einem Stasi-Vermerk. Doch daraus wird nichts. Drei Jahre lang sucht die Staatssicherheit nach der „Gruppe Volkszorn“ – mit allen Mitteln. Es geht schließlich um eine Straftat: §217a, Androhung von Gewaltakten, Ankündigung oder Vortäuschung einer Gemeingefahr. Es drohten einige Jahre Freiheitsstrafe.

1 800 Personen werden im Laufe der Zeit überprüft, viele bemerken es wohl gar nicht. Unzählige IM spitzeln, Post wird überwacht, Wohnungen werden durchsucht und verwanzt, Arbeitsplätze kontrolliert. „Aber die Schlapphüte tappten im Dunkeln“, sagt Lindner.

Auch, als am 8. November 1984 ein zweiter Brief auftaucht, adressiert an den Fernsehfunk in Berlin Adlershof. Diesmal komplett mit Schablone geschrieben: „Letzte Warnung. Frist ist um. Sprengen ist leicht, denn Technik ist empfindlich wie Ihr.“ Die „Gruppe Volkszorn“ droht nun damit, ihre Ziele auszuweiten auf das Lenin-Denkmal am Bahnhof, das Hotel Bellevue, auf Intershops, Postämter und so weiter. Im Ministerium für Staatssicherheit sind inzwischen hochrangige Offiziere mit der Sache beschäftigt. Aus den Akten geht hervor, wie unzufrieden sie mit den Ermittlungen sind: „Die analytische Arbeit“ ist ungenügend“, heißt es. Und ziemlich hilflos: „Klarheit schaffen, wo wir suchen müssen!“

Was aber tun? Es gibt keine Fingerabdrücke, das Papier ist handelsüblich, ebenso wie die Schablone, mit der als Absender geschrieben ist „Graf, DD 8801, Knorrstraße 33“. Eine frei erfundene Adresse, die Straße gibt es nicht. Die Stasi ermittelt exakt, aus welchen Ausgaben der Sächsischen Zeitung und der Union welche Schnipsel ausgeschnitten wurden. Die Formulierung „kochendem Untergrund“ zum Beispiel stammt aus einem Artikel über die Vulkaninsel Island.

Verdächtig sind alle Personen, die sich schon mal kritisch zum Thema Westfernsehen geäußert oder sogar Eingaben dazu gemacht haben. Und das sind nicht wenige.

Im „Tal der Ahnungslosen“ kann man damals ARD und ZDF nur mit besonderen Antennen empfangen. Hatte in den 60er-Jahren der Staat noch versucht, das aktiv zu unterbinden, wird es in späteren Jahren geduldet. Ganz so ahnungslos sind selbst die Dresdner nicht. „Alle guckten, aber keiner redete außerhalb des Freundeskreises darüber“, sagte Dresdens ehemaliger Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer vor einigen Jahren mal in einem MDR-Beitrag. Und gestand, auch selbst Westfernsehen geschaut zu haben. Dem Staat war klar, dass das eine Ventilwirkung hatte. Dort, wo kein Westfernsehen zu empfangen war, wurden deutlich mehr Ausreiseanträge gestellt. Auch der Dresdner, der bei der Suche nach der „Gruppe Volkszorn“ zwischenzeitlich als Hauptverdächtiger gilt, hat eine Antennengemeinschaft zum Empfang von Westfernsehen gegründet. Er ist außerdem ein eifriger Altpapiersammler, hat also viele Zeitungen zur Verfügung. Kurz zuvor ist er aus der SED ausgeschlossen worden und will ausreisen. Er stammt aus dem Kreis Löbau, wo ja auch ein Turm gesprengt werden soll. Seine Frau arbeitet in der „Schnorrstraße“, das klingt immerhin so ähnlich wie die „Knorrstraße“ im Absender. Beide sind beschäftigt beim VEB Polygraph – und „Graf“ steht doch auch auf dem Brief. Aber man kommt nicht weiter, der Verdächtige muss freigelassen werden.

„Sie griffen nach jedem Strohhalm“, sagt Sebastian Lindner. „Statt den Kreis der Verdächtigen einzugrenzen, wurde er immer größer.“ Suspekt ist etwa, wer Begriffe wie „Volkszorn“ oder „Das Maß ist voll“ benutzt. Skeptisch werden die Geheimdienstler, als sie in Kabarett-Texten der Herkuleskeule das Wort „Bellevue“ vernehmen, außerdem ist da die Rede davon, dass man „mittels Schriftvergleich Namen herausfinden“ könne. Zufall?

Weil die Täter in der Gegend des Schillerplatzes vermutet werden, ist dort jedes Mal ein Stasimann dabei, wenn ein Briefkasten geleert wird. Ins Visier geraten schließlich Ingenieure des VEB BMK Kohle und Energie im „Betriebsteil Schloß“. „Schloß“ und „Graf“, da könnte es doch durchaus Zusammenhänge geben. Bei der Durchsuchung der Arbeitsräume findet sich allerdings nur ein verdächtiger Text von Wolf Biermann „Ach Freund – geht es dir nicht auch so“. Auch die Telefonüberwachung bringt nichts, obwohl, wie die Abhörer vermerken, sehr viel telefoniert wird. Das Büro-Telefon wird auch als Raumwanze benutzt, aber man versteht kaum etwas , weil ständig das Radio so laut läuft.

Die Schnüffler kommen einfach nicht weiter. Drei Jahre lang, dann geben sie auf. „Die umfangreichen Fahndungsmaßnahmen sind erschöpft und führten nicht zur Identifizierung der Täter“, vermerkt die Stasi am 25. 9. 1987 und stellt den „Operativen Vorgang Turm“ ein. „Hier zeigt sich, dass selbst die allmächtige Staatssicherheit irgendwann an ihre Grenzen kam.“

Die „Gruppe Volkszorn“ tritt nie wieder in Erscheinung. Bis heute ist unklar, ob es wirklich eine Gruppe war oder ein Einzeltäter. Und ob die Sache überhaupt ernst gemeint war. „Ich vermute eher, es war ein großer Bluff“, sagt Lindner. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass da jemand wirklich Sprengstoff zur Verfügung hatte.“

Und was wäre wohl passiert, wenn die Erpresser Ernst gemacht hätten? „Ein interessantes Gedankenspiel“, findet Lindner.

Viel interessanter fände er es allerdings, wenn sich jemand melden würde, der zur Gruppe Volkszorn“ gehörte. „Die Straftat ist ja inzwischen verjährt.“