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Vom großen Russland ins kleine Oelsa

Für einen Monat ist Venedikt zu Gast in der Oberlausitz. Dabei wäre die Reise beinahe ins Wasser gefallen.

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© André Schulze

Von Susanne Sodan

Mit einem winzig kleinen Wörterbuch ist Venedikt Vankow in Klein-Oelsa angereist – und mit Gastgeschenken. Reicht eigentlich auch. Denn Deutsch lernt der 15-Jährige schon seit mehreren Jahren an seiner Schule in Saransk. Hergekommen ist er, um die Sprache noch besser, vor allem aber, um die Deutschen kennenzulernen. Wenn, dann richtig, haben sich die Gasteltern Gerd Ulber und Birgit Winzer-Ulber gedacht, Venedikt einen Duden gekauft und für vier Wochen als sechstes Familienmitglied aufgenommen. 2 500 Kilometer liegen zwischen Klein-Oelsa und Saransk im westlichen Teil Russlands – und ganze Welten. Großstadt gegen 150-Seelen-Dorf.

Eigentlich hatte Venedikt die Reise nach Deutschland schon abgeschrieben. Organisiert werden die Aufenthalte russischer Jugendlicher in der Oberlausitz seit Jahren von Heike Adomat, Lehrerin am Nieskyer Gymnasium und dem Verein „Gastschüler in Deutschland“. Drei Monate oder vier Wochen – zwischen diesen beiden Angeboten können die Schüler wählen. Venedikt will für drei Monate kommen. „Wir hatten aber nicht genügend Gastfamilien“, erzählt Heike Adomat. Dann steht das 4-Wochen-Programm an. Venedikt bewirbt sich noch einmal. Wieder fehlt eine Gastfamilie. Das erzählt die Lehrerin in ihrer Klasse. Eine ihrer Schülerinnen, Ulrike Ulber, fragt bei den Eltern an. „Die Frage lautete dann eigentlich nur noch: ja oder doch?“ erzählt Gerd Ulber mit einem Lachen.

Ein großes Programm für die vier Wochen hat die Familie nicht auf die Beine gestellt, soll sie auch nicht. „Wir wollen, dass die Jugendlichen in den Alltag eingebunden sind“, erzählt Heike Adomat. Kann eine Familie kein Russisch – gut so.

Schon die ersten Minuten in Deutschland bringen alle Vorurteile zum Einsturz. „Große Genauigkeit und Pünktlichkeit, das habe ich bisher mit den Menschen in Deutschland verbunden“, erzählt Venedikt. Und Landleben heißt in Russland etwas ganz anderes als hier. „Die Dörfer sind bei uns oft sehr alt, sowohl was die Menschen als auch die Häuser betrifft.“ Dass der Strom 24 Stunden am Tag läuft – eine Seltenheit. Die großen Einfamilienhäuser, die gut ausgebauten Straßen – das unterscheidet das russische vom deutschen Landleben. Als Heike Adomat Venedikt vor einigen Tagen vom Flugplatz Dresden abholt und zu Familie Ulber bringen will, verfährt sie sich „Da war irgendwann nur noch Schotterweg und ich habe zu Venedikt gesagt: Das ist ja hier keine Straße mehr. Wir müssen umkehren.“ Venedikts Antwort: „Also bei uns ist das durchaus noch eine Straße.“ Andersherum würde er hiesige Städte wie Niesky oder Rothenburg kaum als Stadt beschreiben, eher als klein geratene Kleinstadt.

Überhaupt, dass man in einer russischen Stadt einen langen Schulweg hat, gar noch mit dem Bus fahren muss, sei äußerst selten. „Das Niveau an den Schulen ist dort zumindest in den Städten einheitlich. Ausgewählt wird einfach nach dem kürzesten Weg“, erklärt Venedikt. Eines hat ihn am ersten Schultag – für vier Wochen besucht er das Nieskyer Gymnasium – völlig verwundert: Dass Ulrike ihre Lehrer auf den Schulfluren mit einem fröhlichen „Hallo“ begrüßt. „Lehrer sind bei uns sehr viel größere Respektspersonen. Die grüßen wir ausschließlich mit ’Guten Tag‘.“

Für Birgit und Gerd Ulber ist Venedikt der Gastschüler, den sie sich gewünscht haben. „Vor zwei Jahren hatten wir schon einmal eine Gastschülerin bei uns“, erzählt Gerd. „Man hat gemerkt, dass sie sich bei uns nicht wohlfühlte. Sie saß die ganze Zeit am Smartphone und hat nach Hause geschrieben.“ Mit Venedikt ist da mehr los: Schwimmen in Hoyerswerda, Radtour um den Bärwalder See. Demnächst geht es mit Mitschülern nach Görlitz. „Da habe ich Tag des geschlossenen Geschäfts und dafür Kultur angeordnet“, erzählt Heike Adomat. Mit der Klasse steht außerdem ein Ausflug nach Dresden an, mit Familie Ulber geht es nach Berlin. Wenn Ulbers mit Venedikt unterwegs sind, darf das Smartphone auch nicht fehlen: Es ist leichter als der Duden und hat eine Übersetzungs-Funktion.