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Wachmann in Auschwitz

Peter Bilibou aus Hahnefeld dient drei Jahre lang im Vernichtungslager. Nach dem Krieg lügt er, um seine Haut zu retten.

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© SZ-Archiv

Von Jens Ostrowski

Über Nacht war Peter Bilibou verschwunden, ließ auf seinem Neubauern-Grund an der Dorfstraße in Hahnefeld alles stehen und liegen. „Die Tiere im Stall wurden bald unruhig, die Kühe schrien vor Schmerzen, weil sie nicht mehr gemolken wurden“, erinnert sich Christa Elschner. Ihre Mutter übernahm damals Bilibous Neubauernstelle mit Grundstück und Haus, nachdem er auf und davon war. „Der hatte sich in den Westen gemacht – aber warum, das wusste damals wohl kaum jemand.“

Peter Bilibou in den 50er Jahren und als alter Mann in den 90ern.
Peter Bilibou in den 50er Jahren und als alter Mann in den 90ern. © Fritz-Bauer-Institut/privat
Peter Bilibou in den 50er Jahren und als alter Mann in den 90ern.
Peter Bilibou in den 50er Jahren und als alter Mann in den 90ern. © Fritz-Bauer-Institut/privat

Doch Peter Bilibou hat im Dezember 1956 gute Gründe, die DDR und somit den sowjetischen Machtbereich schleunigst zu verlassen. Denn Bilibou, der stets gestriegelte 43-jährige gelernte Friseur, hat eine dunkle Vergangenheit. Er trägt über dem linken Ellenbogen auf der Innenseite des Oberarms eine verräterische Blutgruppentätowierung, die ihn als ehemaligen Angehörigen von Hitlers verbrecherischer Eliteeinheit, der SS, identifiziert. Doch bei Bilibou ist alles noch viel schlimmer: Er war als Freiwilliger beim SS-Totenkopfsturmbann Auschwitz und diente dort drei Jahre lang als Wachmann im Rang eines SS-Rottenführers. Das weiß offenbar damals selbst in der eigenen Familie kaum jemand. Die Stasi aber kommt dahinter: „Es wurde erzählt, er sei verraten und dann vor dem Zugriff gewarnt worden. Als die Stasi eines Abends in Hahnefeld an seine Tür klopfte, war er schon geflohen“, berichtet ein Verwandter, der nicht genannt werden will. Denn bis heute sei das Thema bei den Bilibous tabu.

Die Akten der Staatssicherheit belegen, dass Peter Bilibou beim Sicherheitsdienst als SS-Mann bekannt war. Detaillierte Unterlagen aber gibt es nicht über Bilibou, der sich damals nach seiner Flucht in Stuttgart niederlässt. Doch seine Vergangenheit holt ihn auch in Süddeutschland ein. In Vorbereitung zu den Frankfurter Auschwitzprozessen wird er 1960 von der Staatsanwaltschaft Stuttgart vernommen, zur Verhandlung vier Jahre später auch als Zeuge geladen. Verbrechen werden ihm nicht zur Last gelegt, dafür gibt es keine Beweise. Bilibou will weder jemals Misshandlungen, noch Tötungen miterlebt, schon gar nicht sich daran beteiligt haben. Er gibt an, in der 1. Wachkompanie des SS-Totenkopf-Sturmbann gedient zu haben. Sie bewachte das Stammlager Auschwitz I und fungierte als Ehrenkompanie.

Immerhin gibt er zu: „In Birkenau wurden Häftlinge vergast, was bei uns allgemein bekannt war. Wie und wo allerdings vergast wurde, kann ich nicht sagen.“ Die Personalkarte, die in der Gedenkstätte Auschwitz vorhanden ist, zeigt, dass Bilibou damals lügt. Demnach war er nicht nur im Stammlager Auschwitz I, sondern zeitweise auch in Auschwitz II Birkenau, in dem die Vernichtung stattfand, sowie in den Außenlagern Monowitz; Golleschau und Jawischowitz eingesetzt. „Es ist schwer vorstellbar, dass er von diesen tagtäglichen Gewaltexzessen und dem Terror gegen die Häftlinge nichts mitbekommen haben will. Und mit hoher Wahrscheinlichkeit wird er daran in irgendeiner Form beteiligt gewesen sein. Dass SS-Männer, die in Konzentrationslagern ihren Dienst versehen haben, sich nicht mindestens der Beihilfe zum Mord schuldig gemacht haben, ist nicht vorstellbar“, sagt Jens Nagel, Historiker der Gedenkstätte Zeithain (siehe Interview).

Auch der Leiter des Archivs der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau, Wojciech Plosa, ist sich sicher: „Es ist so gut wie unmöglich, dass Peter Bilibou von den Gräueltaten in den Lagern nichts mitbekommen hat. Die Sterberate von Gefangenen in den Lagern Jawischowitz, vor allem aber Golleschau – in denen er ja nachweislich eingesetzt war – war außergewöhnlich hoch.“ In Golleschau mussten die Häftlinge für eine Zementfabrik arbeiten. Plosa spricht von Sklavenarbeit, Prügel, Folter und Hunger. „Kranke und schwache Häftlinge wurden dann häufig nach Birkenau geschickt, um in den Gaskammern ermordet zu werden“, sagt Plosa.

Arbeit im Mercedes-Werk

Während in Auschwitz mindestens eine Million Menschen ermordet werden, geht für Peter Bilibou das Leben nach Kriegsende weiter. Nachdem er erst am 20. Januar 1945 – also sieben Tage vor der Befreiung – Auschwitz verlässt , wird er in den letzten Kriegstagen an der Front verwundet. „In Gefangenschaft bin ich aufgrund meiner Verwundung nicht gekommen“, gibt er später an.

Nach seiner Flucht in den Westen gelingt es Bilibou schließlich, eine langfristige Beschäftigung in der Werkzeugausgabe im Mercedes-Benz-Werk in Stuttgart zu bekommen. Er führt ein unbehelligtes normales bürgerliches Leben in der Bundesrepublik. Für seine Dienstzeit in der SS und seine Verwundung hat er mit großer Wahrscheinlichkeit zusätzlich zu seiner normalen Rente eine Opferrente erhalten. In den 90er Jahren stirbt er mit über 80 Jahren – ohne jemals zur Rechenschaft gezogen worden zu sein oder sich öffentlich zumindest einer moralischen Mitschuld bekannt zu haben. Peter Bilibou ist nur einer von Tausenden Auschwitz-Tätern, die unbehelligt blieben.

Die originale Zeugenaussage von Peter Bilibou beim Auschwitzprozess hören Sie unter www.facebook.de/riesasz