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Wenn Erich Kästner ins Hochgebirge reist

Der Schauspieler Walter Sittler spielt zum dritten Mal den bekannten Kinderbuchautor. Bei seiner Reise findet er nicht nur Freude im Schnee.

Von Karin Großmann
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Walter Sittler spricht Erich Kästners Weihnachts- und Wintertexte.
Walter Sittler spricht Erich Kästners Weihnachts- und Wintertexte. © PR

Erich Kästner behauptete, er sei immer ein Kind der Königsbrücker Straße geblieben. Das klingt bodenständig und unkompliziert. Doch das Extravagante liebte er auch. Er genoss den Luxus, den er sich leisten konnte dank seiner Kinderbücher. Deshalb bot die Gläserne Manufaktur  mit funkelnden Volkswagen die passende Kulisse für die Uraufführung des Kästner-Programms von Walter Sittler am Wochenende in Dresden.

Der Schauspieler lässt sich zum dritten Mal auf den Musterknaben ein, der als humorvoller Feuilletonist und als scharfsinniger Satiriker Karriere machte, der rührselige Muttchen-Briefe schrieb und in seinen Romanen vorsichtig Widersprüche der Zeit spiegelte. Diesmal entscheidet sich Sittler für ein „Saisongewerbe“, wie es bei Kästner heißt, für eine Weihnachts- und Wintercollage. Virtueller Schnee rieselt über eine Videoleinwand. Sechs Musiker variieren sehr gekonnt bekannte Weihnachtslieder.

Der Mix aus Gedichten, Prosatexten und Notizen schafft zunächst eine Stimmung, die man zu Kästners Zeit wohl behaglich nannte. Dann sitzen Vater, Mutter, Kind doch noch einträchtig auf dem alten Plüschsofa beisammen, weil ein mildtätiger Lehrer die Heimfahrt für das Kind aus dem Internat bezahlte. Es macht nichts, dass sie nur eine winzige Fichte haben und die halb abgebrannten Kerzen vom letzten Jahr. Hauptsache, glücklich. Die Musiker können die Sentimentalität noch steigern. Walter Sittler greift zum Taschentuch.

Spott für die feinen Leute

Der Schauspieler, der am Donnerstag 68 wird, tourt mit literarisch-musikalischen Programmen durchs Land, wenn er nicht gerade fürs ZDF in „Der Kommissar und das Meer“ vor der Kamera steht. Für Erich Kästner verbündet er sich erneut mit dem Regisseur und Produzenten Walter Mühleis und dem Komponisten Libor Síma. Der Karikaturist Mario Lars steuert pointierte Illustrationen für die Videoleinwand bei. So entsteht ein abwechslungsreicher Abend. 

Eins greift ins andere ohne Holpern, freilich auch ohne Höhepunkte. Es ist klasse, wenn die Musiker zum Gedicht „Morgen, Kinder, wird’s nichts geben“ das bekannte Gegenteil spielen – von dieser Art könnte es mehr geben. Sittler sitzt häufig an einem Tisch und liest Texte vor, während er so tut, als würde er schreiben und redigieren. Mal kurbelt er an einer alten Spitzmaschine. Mal greift er zum Radiergummi. Der Schauspieler trägt Schiebermütze, Knickerbocker, Rautensocken und Tweed-Sakko, wie es Ende der Zwanziger Mode war. Vintage-Stil heißt das heute. Trotz aller Verkleidung sieht man immer Walter Sittler, auch wenn er in der Ichform als Erich Kästner spricht.

Und trotz aller Harmonieseligkeit gibt es glücklicherweise auch die anderen Töne, die spöttischen, bösen, ironischen. Kästner gibt die sogenannte bessere Gesellschaft der Lächerlichkeit preis. Sie trifft sich zum Bridge im Grandhotel und kennt die Winterlandschaft nur von Postkarten. Sie kann lange darüber streiten, ob Hemdkragenecken über oder unter die Smokingkrawatte gehören, was am Wintersport ja das Wichtigste ist. Nachts aber stürzt die Gesellschaft schlagerbrüllend auf die Piste, der Herr Fabrikdirektor als Ritter und die Damen mit nichts als Flitter. „Sieben Rehe starben auf der Stelle.“ Auch des Reimes wegen lag das an der Jazzkapelle.

Ähnliche Szenen dürfte Erich Kästner selbst erlebt haben in den Grandhotels von Kitzbühel und Oberstdorf. Dort verbrachte er mehrere Jahre lang Winterfrische samt Fasching. Sittler betont vor allem solche Sätze überdeutlich, die den Autor als kritischen Zeitbeobachter zeigen, der sich mit seinem eigenen Gewissen herumschlägt und resigniert darauf hofft, dass der Fortschritt irgendwie fortschreitet, denn „wo soll er auch sonst hin?“.