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Warten auf den Lebensretter

Ein Sowjetsoldat bewahrt ein Königsbrücker Kleinkind vorm Sturz vom Dach. 50 Jahre später treffen sich beide wieder.

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© Matthias Schumann

Von Ina Förster

Königsbrück. Die schlimmste halbe Stunde ihres Lebens hatte Christine Möbius mit 24 Jahren. Da saß ihr 19 Monate alter Sohn Torsten auf dem Dach ihres Elternhauses in Königsbrück fest. Und nur ein marodes Schneegitter verhinderte seinen Absturz, 13 Meter abwärts in die Tiefe. Die 74-Jährige kann bis heute nicht mit Worten beschreiben, was in ihr vorging. Angst. Verzweiflung. „Man funktioniert nur. Oder besser: eigentlich gar nicht mehr. Ich konnte auch nicht aus dem Fenster schauen. Um mich herum lauter aufgeregte Menschen“, erinnert sie sich.

Torsten Möbius lebt heute in Dresden und ist 51 Jahre alt. Er trifft seinen Lebensretter Valentin und dessen Frau am 19. Juni in Königsbrück.
Torsten Möbius lebt heute in Dresden und ist 51 Jahre alt. Er trifft seinen Lebensretter Valentin und dessen Frau am 19. Juni in Königsbrück. © Repro: Matthias Schumann
Valentin und  Torsten Möbius haben sich nach der Rettung nur noch einmal gesehen.
Valentin und Torsten Möbius haben sich nach der Rettung nur noch einmal gesehen. © Repro: Matthias Schumann
Der ehemalige sowjetische Soldat ist heute 72 Jahre alt.
Der ehemalige sowjetische Soldat ist heute 72 Jahre alt. © Repro: Matthias Schumann

Was war passiert? „Es war der 19. Juni 1968. Wir wohnten damals bei meinen Eltern über der Buchhandlung Merz unter dem Dach. Ich hatte nur wenige Augenblicke das Zimmer verlassen. Wollte meinem Vater die allerersten Erdbeeren aus unserem Garten bringen. Als ich wiederkam, war Torsten weg“, erzählt Christine Möbius. Die schlimmsten Befürchtungen wurden wahr. Als sie nach kurzer Suche aus der Dachluke schaute, erblickte sie ihren kleinen Schatz. „Er hatte sich nach seinem Kopfüber-Rutsch – das berichtete die Nachbarin später – am Schneegitter aufgesetzt. Zwischenzeitlich hatte er sogar gestanden!“ Was hätte alles passieren können …

Christine Möbius und ihr Mann Rainer können heute über das Geschehene sprechen. Torstens Schutzengel leisteten damals ganze Arbeit. „Wie der Junge mit seinen 19 Monaten überhaupt an das Fenster herangekommen war, ist uns immer noch ein Rätsel“, sagt der 75-Jährige. Theoretisch war das nicht möglich. Praktisch leider schon. Er war am Unglückstag im Garten, erfuhr erst später davon. Da war die dramatische Rettungsaktion lange vorüber.

Und dramatisch war sie. Anfangs herrschte Chaos. Die Dachluke war zu eng für Erwachsene. Der erste Helfer kam nicht hindurch. Der Zweite zweifelte die Haltbarkeit der zusammengesuchten Seile an. „Unten auf der Straße hatte sich eine große Menschentraube gebildet. Die Feuerwehr war alarmiert, aber jede Sekunde zählte“, so die Mutter. Unzählige Menschen standen und schauten, es war gerade Feierabend in den Betrieben und die Autobusse verstopften die Straßen. Auch die Polizei war vor Ort. Doch bevor etwas gelang, erschienen wie aus dem Nichts zwei Sowjetsoldaten. Sie liefen die Mittelstraße entlang und erkannten die Gefahr, in der Torsten schon seit Längerem schwebte.

Ohne nachzudenken losgestürmt

Die Soldaten waren in der Kaserne der ehemaligen Garnisonsstadt Königsbrück stationiert. „Die beiden hatten gerade beim Friseur eingekauft. Haarnetze hatten sie sich besorgt, das war fast das Einzige, was sie nach Hause schicken durften, erfuhr ich später“, so Christine Möbius. Die jungen Männer stürmten ohne nachzudenken ins Dachgeschoss. Torsten saß immer noch am Schneegitter. Die herannahende Feuerwehr hatte er mit den Worten „Tatütata“ begrüßt. „Irgendwie erwischte er Gott sei Dank das Stück Gitter, welches nicht durchgerostet war“, erinnert sich der Vater.

„Der eine der Sowjetsoldaten, Valentin, ließ sich auf dem Bauch hinunter zu dem Kind rutschen, erfasste unseren Sohn. Die anderen Helfer versuchten, ihn nun an den Beinen emporzuziehen. Das ging allerdings schwer, da sich noch sein Koppel in den Dachziegeln verhakte“, erzählt die 74-jährige Christine Möbius heute. Doch nach unendlich scheinenden 30 Minuten war das Kind gerettet. So schnell wie die Soldaten gekommen waren, so schnell waren sie weg. Ein Dankeschön war nicht möglich.

„Erst am 7. Oktober 1968 fand eine Veranstaltung statt, in der Valentin die Lebensrettermedaille verliehen wurde. Das war für uns eine ergreifende Ehrung. Als Dank schenkten wir einen Bademantel, Koffer sowie eine Bilderserie. In vielen Zeitungen wurde berichtet. Ein erneutes Treffen fand allerdings nie statt, da die Deutsch-Sowjetische Freundschaft nicht gelebt werden durfte“, so die Eltern. Oft wurden sie gefragt, ob man noch Verbindung mit dem Russen hätte. Dieser war jedoch längst anderswo stationiert. Erst zehn Jahre später, spielte das Schicksal ihnen den Lebensretter wieder zu. Und auch diese Geschichte klingt wie aus einem Hollywoodfilm: Ein Ehepaar aus Gräfenhainichen weilte 1978 im Urlaub in Ostasien. Sie hatten sich von der Reisegruppe entfernt und fragten einen Soldaten nach dem Weg. Er konnte ein bisschen Deutsch und nahm das Ehepaar mit in seine Wohnung. Dort zeigte er ihnen die Fotoreihe von Torsten und seine Lebensrettermedaille. „Er erzählte dem Paar auch von seinem innigsten Wunsch, den Jungen noch einmal zu sehen. Valentin hatte wohl schon einige Kontaktversuche unternommen, aber die Briefe kamen nie bei uns an. Aber Familie Böhland setzte sich nach dem Urlaub mit uns in Verbindung“, erzählt Rainer Möbius.

Schicksal mischte die Karten neu

Seitdem sind wieder 40 Jahre vergangen. Heute lebt der 72-jährige Valentin bei Kiew. Mitten im Krisengebiet. Dank der sozialen Medien haben unterdessen Torsten und Valentins Sohn per Facebook Kontakt miteinander. Lange trug Familie Möbius den Gedanken in sich, den Lebensretter nach Königsbrück einzuladen. Um sich zu bedanken. Und um abzuschließen. „Am 50. Jahrestag der Rettung erscheint uns das richtig“, meinen sie.

Mit seiner Frau reist Valentin bald für eine Woche an. Torsten Möbius hat zwei Flugtickets geschickt und ein Dresdner Hotel gebucht. Sie wollen dem Lebensretter Sachsen zeigen. Und noch einmal den ehemaligen Truppenübungsplatz besuchen. Nachbar Dietmar Wilhelm wird dolmetschen. Und dann steht der ehemalige Sowjetsoldat Valentin am 19. Juni, 10 Uhr noch einmal im Königsbrücker Rathaus – beim Ehrenempfang des jetzigen Bürgermeisters. Gäste sind willkommen. Torsten und seine Eltern sind dabei. Sie werden zurückdenken, ein bisschen weinen, lachen und das Leben feiern.