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Warteschlange im Katastrophen-Winter

Der Begriff „Schneemassen“ galt in Görlitz oft. Doch zu Andrang vor einem Elektroladen führte er selten.

Von Ralph Schermann
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Görlitzer warten vor dem Beleuchtungsgeschäft. Schuld ist der Stromausfall.
Görlitzer warten vor dem Beleuchtungsgeschäft. Schuld ist der Stromausfall. © Rainer Kitte / Sammlung Ralph Schermann

Das „plötzlich und unerwartet“ der Winter einbricht, kommt immer wieder vor. Die jüngsten Bilder aus Bayern und aus Österreich sprechen da Bände. Doch auch in nördlicheren deutschen Gefilden tauchten in der Geschichte immer wieder Schneemassen auf. Zum Beispiel zum Jahreswechsel 1978/79. Während die Silvesterschwärmer noch bei leichtem Nieselregen und schönen Plusgraden zu ihren Partys eilten, überraschten sie am frühen Morgen dann tiefe Minuswerte und gefährliche Eisglätte. Es war der Wintereinbruch, bei dem der Diskotheker vom Gasthof „Goldener Baum“ drei Stunden zu Fuß schlitternd bis nach Biesnitz brauchte, während dort ein hoher Funktionär angetrunken vom „Burghof“ aus nach Dresden seiner übergeordneten Behörde meldete, angeblich alles im Griff zu haben. Tatsächlich war es ganz anders: Bald schon hatte der Schnee die Görlitzer im Griff, wenn auch nicht so drastisch wie auf der Insel Rügen, die von Hubschraubern versorgt werden musste, aber dennoch auch in Ostsachsen mit recht üppigen Schneehöhen.

Schlimm war damals vor allem, dass die Energieversorgung ausfiel. Kraftwerke, auch die in Hagenwerder, standen vorübergehend still, weil aus den tiefgefrorenen Braunkohlegruben kein Nachschub kam. Kompanieweise wurden Soldaten zur Hilfe in die Kohlegewinnung abkommandiert. Unter der Last vereister Stromleitungen brachen Überland-Masten, kurzum: Die gesamte DDR war Anfang 1979 zeitweise ohne Strom, manche Orte ein paar Stunden, andere bis zu zwei Tage. Und deshalb entstand damals auch das hier in der Mitte zu sehende Bild: Es bildeten sich Käuferschlangen dort, wo man sie sonst nie kannte, hier zum Beispiel vor dem Görlitzer Konsum-Fachgeschäft für Beleuchtung und Elektromaterial. Das befand sich damals etwa dort, wo heute das Eiscafé zu finden ist, auf dem Demianiplatz Nummer 19.

Wieso stand man 1979 bei Eiseskälte ausgerechnet dort an? Die beliebten, wenn auch stromfressenden Elektroheizgebläse gab es in der DDR doch sowieso nicht, die holte man aus Polen oder ließ sie sich „aus dem Westen“ schicken. Und die hätten bei Stromausfall eh nichts genützt. Die gefragten Kühlschränke, Gefriertruhen und Waschmaschinen gab es nicht in diesem Laden am Demianiplatz, sondern, wenn es denn mal welche gab, im Kontakt-Kaufhaus gegenüber, dem ehemaligen „Kaufhaus Blitz“. Hier dagegen lagen Stecker und Schalter in den Regalen, Verlängerungskabel und Verteilerdosen. „Danach stand wahrlich niemand an“, bestätigt die damalige Verkaufsstellenleiterin Karin Ebermann. Sie erinnert sich: „Kundenandrang kannten wir nur, wenn aus Polen mal handwerkliche Nachbildungen von Petroleumlampen geliefert wurden, die waren ebenso begehrt wie die Weihnachtsbaumbeleuchtung ab Mitte November.“ Das Foto aber stammt vom Januar, da war Weihnachten längst vorbei. Karin Ebermann weiß noch genau, aus welchen zwei Gründen sich 1979 bei ihr solche Schlangen bildeten: „Wegen der Stromausfälle deckten sich erstens die Leute plötzlich mit Taschenlampen und Batterien für diese ein. Der Großhandel kam kaum hinterher, solche plötzlich begehrten Dauerwaren nachzuliefern.“ Doch Stromausfall betraf zweitens auch die Läden selbst. Heute blieben sie geschlossen, weil kein Scanner mehr ginge, keine Bankverbindung lief und auch kein Kassierer mehr mit Stift und Zettel rechnet. Damals war das einfacher, bestätigt die einstige Verkaufsstellenleiterin, die heute im Görlitzer Umland wohnt: „Wir stellten einfach einen Tisch mitten in die Eingangstür und verkauften von dort aus direkt auf die Straße, die Preise rechneten wir ohne Registrierkasse im Kopf aus, und für gewünschte Quittungen hatten wir einen Block und einen Stempel – ganz simpel. Alle 20 Minuten wechselten wir uns ab, und eine der Kolleginnen wärmte sich dann in einem hinteren Raum wieder etwas auf.“ Die kleine Schlangen-Episode zeigt, wie die Menschen sich zu helfen versuchten. Auch im Großen war das so: Die Werktätigen halfen nicht nur Betriebsgelände vom Schnee freizuschaufeln, sondern zogen in die Stadt, um den Winterdienst beim Freihalten der Straßen und Straßenbahnschienen zu unterstützen. Es gibt viele Erinnerungen an jenen Januar 1979, an dem erst nach etwa zwei Wochen wieder Normalität einkehrte.

Wie Görlitz zu DDR-Zeiten generell gegen Schnee vorging und damals dennoch immer als unzureichende Winterfestmachung belächelt wurde, ist ohnehin wohl jedem Älteren noch gut bekannt. Da wurde Schnee bei zu viel Belastung zusammengeschoben und auf Lastwagen verladen. Als Zwischenlager diente zum Beispiel dann der Mittelstreifen der Goethestraße. Auf Hauptstraßen waren aus umliegenden Landwirtschaften Traktoren mit Schleppschild im Einsatz, oft mehrere hintereinander im Verbund fahrend. Beräumt wurden auf diese Weise damals aber auch Nebenstraßen, die heute allein den Anliegern zur Beräumung überlassen werden. Dem Abstumpfen der Fahrbahnen mit Sand folgte Salz, später Feuchtsalz, auf Gehwegen auch Splitt. Manchmal aber ging tatsächlich auch mal gar nichts mehr, dann mussten Straßen gesperrt werden.

Der Januar 1979 steht freilich nicht allein für winterliche Extreme. Für bittere Kälte bekannt wurden die Winter 1928/29, 1946/47, 1962/63 und auch 1969/70. Die Wetterwarte Görlitz notierte als tiefste Werte am 14. Januar 1987 minus 27,5 Grad Celsius, am 9. Februar 1956 sogar minus 30,8 Grad. Von Frost und Schnee gibt es also viele Geschichten…

Mitarbeit: Hans Schulz

Viele Hände sorgten im Januar 1979 dafür, dass die Görlitzer Straßenbahnen fahren konnten. Überall an den Strecken, hier auf der Rauschwalder Straße, wurde geschippt, um die Gleise freizuhalten. 
Viele Hände sorgten im Januar 1979 dafür, dass die Görlitzer Straßenbahnen fahren konnten. Überall an den Strecken, hier auf der Rauschwalder Straße, wurde geschippt, um die Gleise freizuhalten. 
Warum der Stadtbus am Palast-Theater auf die Gegenfahrspur geriet, ist dem Bild nicht zu entnehmen: Schlitterte er auf glatter Straße oder wollte der Fahrer einen Stau umgehen?
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An Schwerpunkten wie am Ostritzer Berg waren Räumdienste 1979 fast pausenlos unterwegs. Fotos: Rainer Kitte / Sammlung Ralph Schermann
An Schwerpunkten wie am Ostritzer Berg waren Räumdienste 1979 fast pausenlos unterwegs. Fotos: Rainer Kitte / Sammlung Ralph Schermann