SZ +
Merken

Warum Ursel schon mit 15 sterben musste

Das Schicksal von Kindern in Großschweidnitz während der NS-Zeit ist Thema einer Ausstellung und einer Broschüre.

Teilen
Folgen
© Karl-Ludwig Oberthür

Von Thomas Morgenroth

Großschweidnitz. Ursula bekam eine Spritze. Danach wurde ihr schlecht. Eine Schwester schaffte sie von der Station, kam dann allein nur mit den Kleidungsstücken zurück, aber Ursel kam nie wieder.“ Das schrieb Marianne Kühn, damals zwölf Jahre alt, im Februar 1945 in einem Brief an ihre Lehrerin Margot Reukauff. Das erschütternde Dokument ist ein Beweis für die gezielten Tötungen von behinderten Kindern in der Landesanstalt Großschweidnitz. Eines der Opfer war Ursula Heidrich, die im Alter von nur 15 Jahren sterben musste.

Das aus Dresden stammende Mädchen, das den Besucher derzeit in der Dauerausstellung in der Gedenkstätte Sonnenstein in Pirna auf einem großen Foto mit offenen und freundlichen Augen ansieht, war geistig fit. Sie konnte aber wegen einer spastischen Lähmung ihrer Beine, der sogenannten Little’schen Erkrankung, nicht laufen. Den Ideologen des „Dritten Reiches“ galt sie deshalb als „unnützer Esser“.

Als Todesursache gaben die Ärzte Bronchopneumonie an, eine Form der Lungenentzündung, eine „natürliche Erkrankung“ also, hervorgerufen aber durch die Verabreichung von starken Schlafmitteln, die zur Lähmung der Schluck- und Hustenreflexe führten. Die Tötung von Kindern, die jüngsten waren keine zwei Jahre alt, wie aus den Akten hervorgeht, ist das wohl grausamste Kapitel der an Scheußlichkeit ohnehin kaum zu überbietenden „Euthanasie“, der Ermordung Behinderter und Kranker im Rahmen der „Aktion T4“.

Mit der bedrückenden Geschichte Ursulas erinnert die Gedenkstätte in der einstigen Tötungsanstalt Sonnenstein, in der fast 14000 Menschen vergast wurden, beispielhaft an diese Verbrechen. Der Pirnaer Gedenkstättenleiter Boris Böhm widmete dem Mädchen in der Reihe „Den Opfern einen Namen geben“ zudem eine zwölfseitige Broschüre.

Das Schicksal von Ursula Heidrich wird auch in einer kommentierten Chronik des Katharinenhofes Großhennersdorf erwähnt, einem der ältesten Heime Sachsens für behinderte Kinder und Jugendliche, das es noch heute unter Trägerschaft des Diakoniewerkes Oberlausitz gibt. Grundlage für das Buch, das am Freitag erscheint, ist eine Art Tagebuch der Diakonisse Gertrud Oberlein. Es beginnt am 1. Juli 1934, dem Tag der Übernahme der Landesanstalt durch die Innere Mission Sachsen und endet mit der Auflösung und dem Abtransport der 200 Kinder im Oktober 1941. Darunter befand sich Ursula Heidrich, die 1936 in den Katharinenhof kam.

Der promovierte Wehlener Historiker Boris Böhm, der seit 25 Jahren auf dem Sonnenstein zur NS-„Euthanasie“ in Sachsen forscht und die Gedenkstätte seit ihrer Eröffnung im Juni 2000 leitet, ist sich mittlerweile sicher, dass auch Kinder aus dem Katharinenhof in Pirna ermordet wurden. Die meisten aber fielen bis Kriegsende in Großschweidnitz und anderen Anstalten der sogenannten „Medikamenten-Euthanasie“ zum Opfer, ausgeführt von gewissenlosen Ärzten. Viele davon wurden dafür trotz großer Gerichtsprozesse, wie 1967 in Frankfurt am Main, nie bestraft. Die Richter bezeichneten die Mediziner zwar als „Mordgehilfen“, sprachen sie aber trotzdem frei – weil sie guten Glaubens angenommen hätten, die Aktion der sogenannten „Gnadenmorde“ sei legal.

Die Diakonissen im Katharinenhof hatten damit nichts zu tun, im Gegenteil, sie versuchten, die Kinder zu schützen. Auch der ärztliche Leiter Karl Daniel half 1940 bei der Rettung von Kindern vor ihrer drohenden Ermordung. Davon wird in dem Buch erzählt, aber auch von den Erlebnissen der Schwestern mit den Kindern, von Glück und Leid im Alltag, von den sich zunehmend schwieriger gestaltenden Bedingungen, von der Zwiespältigkeit des menschlichen Denkens und Handelns.

Als einen „historischen Schatz“ bezeichnet Jürgen Trogisch die Chronik von Gertrud Oberlein. Der Kinderarzt war von 1970 bis 1991 leitender Arzt des Katharinenhofes und danach bis zu seiner Pensionierung 2004 Referatsleiter für Rehabilitation Behinderter im Sächsischen Gesundheitsministerium. Trogisch ist einer der Autoren des Heftes, das unter dem Titel „Nun ließe sich viel erzählen von all den Tagesereignissen“ in der Reihe „Lebenszeugnisse – Leidenswege“ der Stiftung Sächsische Gedenkstätten erschienen ist.

Ein wichtiges Kapitel stammt von dem auf dem Sonnenstein arbeitenden Historiker Hagen Markwardt, der sich mit dem Anstaltsarzt Ewald Meltzer und den rassenhygienischen Debatten während der Weimarer Republik und in der NS-Zeit befasst hat. Boris Böhm hingegen gibt einen Abriss zur Geschichte des Katharinenhofes von 1721 bis 1945. Er berichtet zudem vom Schicksal der Kinder, unter anderem von Ursula Heidrich, die am 19. Februar 1945 in Großschweidnitz starb – keine zwanzig Kilometer vom Katharinenhof entfernt.

Buchpräsentation am 27. Januar, 16 Uhr, im Katharinenhof Großhennersdorf; zu beziehen ist das 144 Seiten starke Heft zum Preis von 8,50 Euro über die Stiftung Sächsische Gedenkstätten, www.stsg.de