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Was geschah in Niederkaina?

Wenige Tage vor Kriegsende ist die Region Bautzen Schauplatz brutaler Kriegsverbrechen.

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© Uwe Soeder

Von Miriam Schönbach

Bautzen. Eine schlichte Tafel an einer Feldsteinmauer, nur wenige Zeilen Text. Bis vor wenigen Tagen erinnerten sie an eines der schwersten Verbrechen in der Region Bautzen zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Am Wochenende wurde die Tafel zerstört. Eine linke Gruppe bekannte sich beim Internetportal Indymedia zu der Tat. Man habe – so heißt es dort – „das Gedenken an Nazis zerschlagen“ wollen. Mit der historischen Wahrheit hat das wenig zu tun, ebenso wenig wie die jährlichen Aufmärsche rechtsextremer Gruppen an selber Stelle.

Die Mauer, an der die Gedenktafel befestigt war, ist das letzte Relikt der großen Scheune des Ritterguts von Niederkaina. Am 22. April 1945 wurde sie ein flammendes Grab für 195 Volkssturmmänner. Erbärmlich verbrannten sie bei lebendigem Leib. Augenzeugen berichten, dass Angehörige der 1. Ukrainischen Front das Massaker begingen. Ihre Barmherzigkeit hatten die Soldaten beiderseits der Front in den Schützengräben verloren.

Wer aufgeben will, wird hingerichtet
Wenige Tage zuvor: Die Stadt Bautzen gleicht einer Festung. Entlang der alten Stadtbefestigung stehen Panzersperren. In Kasernen, den Eckhäusern und auf Türmen warten kriegsversehrte Invaliden und Kinder in Uniform auf die Rote Armee. Mit einer Granatenflut und einem Luftangriff auf die Spreestadt beginnen russische und polnische Soldaten am 16. April um 5 Uhr die Offensive. Auf der Ortenburg verschanzt sich Oberst Dietrich Hoepke.

Der Kommandant wurde beim Russlandfeldzug 1941 schwer verletzt. Seitdem läuft er am Stock. Umso verbissener jagt er jetzt jeden Mann in den Kampf. Am 18. April richtet er auf der Ortenburg ein Standgericht ein. Wer die Stadt aufgeben will, wird zum Tode verurteilt.

Hoepke befehligt drei Volkssturmbataillone, Stab und Stabskompanie. Knapp 3 000 Mann stehen so russischen und polnischen Soldaten gegenüber. Am 19. April schieben sich die ersten russischen Panzer in die Stadt. So beschreibt es Eberhard Berndt. Der Militärwissenschaftler hat sich intensiv mit den verlustreichen Gefechten befasst. Der Volkssturm – er wird 1944 reichsweit aus Männern zwischen 16 und 60 Jahren gebildet – kämpft bis zuletzt am Innenstadtring. Doch die Lage wird immer aussichtsloser. Die Volkssturmleute sind schlecht ausgebildet – „Kanonenfutter“.

Um den 20. April geraten etwa 200 Mann in Gefangenschaft der Roten Armee. „Aus der Kampflinie“ werden sie nach Niederkaina gebracht „und mit Brot und Speck richtig versorgt“. So schreibt es Pfarrer Lange in der Chronik der Michaeliskirche. Kurz darauf erobern deutsche Panzer die Stadt zurück. Vermutlich, um sich der Gefangenen zu entledigen, zünden die Bewacher der Volkssturmleute die Scheune an. Mit MG-Garben verhindern sie, dass diese aus dem Gebäude fliehen.

Der Autor Theodor Seidel befasst sich in seinem Buch „Kriegsverbrechen in Ostsachsen“ mit den Vorgängen in Niederkaina. Der Jurist verlor bei der Gräueltat seinen Vater. Bei seinen Recherchen trifft Seidel auf eine Bautzenerin, die im Juni 1945 bei einer Hamstertour in Niederkaina den Schmied trifft. Auch er habe das Massaker miterlebt, so berichtet sie. Es sei das furchtbarste Erlebnis seines Lebens gewesen. Im Gutsbereich und den Militärschießständen von Niederkaina sollen weitere 70 Deutsche ermordet worden sein.

Gemordet wie im Blutrausch
Doch nicht nur in Niederkaina tobt in den letzten Kriegstagen die Barbarei. Theodor Seidel – 1931 in Großharthau geboren – suchte in den Begräbnisbüchern der Pfarrämter akribisch nach Kriegsverbrechen an deutschen Zivilisten. Er kommt für Ostsachsen auf mehr als 700 Opfer.

Seidel vergisst jedoch nie: Die schrecklichen Taten haben eine Vorgeschichte. Ohne die unzähligen Verbrechen der Deutschen hätte es diese Gewalttaten nicht gegeben. Und auch im April 1945 kennt Hitlers letzte Reserve oft keine Gnade. Die Blutspur der deutschen Wehrmacht und der SS zieht sich durch viele Dörfer der Oberlausitz. Am Tag, an dem die Scheune in Niederkaina brennt, metzeln Deutsche in Guttau ein Feldlazarett der polnischen Armee nieder. Sie überschütten das Gebäude mit Benzin. 85 russische und polnische Soldaten finden einen grausamen Tod.

Im Waldgebiet von Diehsa bei Weißenberg gibt es ebenfalls kein Erbarmen mit den Verwundeten und dem Personal eines russischen Feldlazaretts. In Bautzen werden nach der Rückeroberung der Stadt Ärzte, Schwestern und Verwundete eines russischen Feldlazaretts erschossen.

Unmenschlich wüteten die deutschen Soldaten in Großröhrsdorf, Zerna, Droben und Uhyst an der Spree. Einen Schreckenstag erlebt Horka am 26. April. Ein polnisches Feldlazarett trifft nachmittags im Dorf bei Crostwitz ein. Die wenigen begleitenden Offiziere fühlen sich in Sicherheit. Die Verwundeten müssen versorgt werden. Leute aus dem Dorf helfen. Plötzlich eröffnen Wehrmachts- und SS-Einheiten das Feuer. Einige Quellen sprechen von 300 Toten, andere von 200 Ermordeten.

Der Kamenzer Dieter Rostowksi forschte zu Kriegsverbrechen an der polnischen Armee. Eine Augenzeugin berichtet ihm: „Ich habe gesehen, dass die Verwundeten ... Fußspuren trugen auf Gesicht und am Körper, Spuren von Messer- und Bajonettstichen. Sie waren mit ein, zwei Schüssen in den Hinterkopf erschossen worden ...“. Nach dem Blutrausch werden die getöteten Soldaten in einem Massengrab verscharrt.

Unterm Strich kosten die letzten Kriegstage in der Lausitz mehr als 10 000 sowjetischen, polnischen und deutschen Soldaten das Leben. Hinzu kommen 18 000 bis 20 000 Verwundete. Alle hatten noch ein Leben vor sich, so wie der polnische Soldat in Horka. Er flüsterte einer Dorfbewohnerin kurz vor dem Beschuss der Henker zu: „Matka, teure Matka, hilf mir. Ich will nicht sterben, ich habe zu Hause drei Kinder.“ Ein Genickschuss tötet auch ihn.

Der Beitrag wurde leicht überarbeitet und gekürzt übernommen aus: „Die letzten Zeugen. Geschichten vom Kriegsende in Ostsachsen 1945“, Pirna 2015