SZ +
Merken

Weiße Fahnen ersparten Görlitz eine größere Zerstörung

Bis zuletzt wollten Spitzen von Rathaus und Nazi-Partei das nahe Ende des Krieges nicht erkennen. Bis sie selbst flüchteten.

Teilen
Folgen
NEU!

Am 6. Mai 1945 hatten auch die „Gläubigsten“ um Oberbürgermeister Meinshausen und NSDAP-Kreisleiter Malitz begriffen: Es ist aus. Der Führer tot, in Berlin jeglicher Widerstand erloschen und der „Russe“ schon im nördlichen Vorfeld von Görlitz. Im „Braunen Haus“, Schützenstraße 6, und im Rathaus plante man seit langem die Flucht unter den Schirm von Schörners Heeresgruppe Mitte und hoffte, später irgendwie zu den Amerikanern zu kommen.

Die Niederlage vor Augen, waren Meinshausen und Malitz jedoch nicht Willens, Görlitz zur offenen Stadt zu erklären, um so den Einwohnern weiteres Leid zu ersparen. An alle städtischen Dienststellen erging der Befehl, sämtliche Akten zu verbrennen. Um 17 Uhr gaben Festungskommandant Oberst Neise und der Schutzpolizeichef, Oberstleutnant Eßr, bekannt: „Wir können die Front nicht halten, wenn der Russe angreift!“

Zur gleichen Zeit eröffnete die Rote Armee bei Dresden nach kurzer Artillerievorbereitung die Offensive in Richtung Prag. Geringfügiger Beschuss nachts wurde als erste Vorbereitung für einen direkten Angriff auf Görlitz gedeutet. Am Morgen des 7. Mai fiel der 52. Armee die Aufgabe zu, aus dem Raum Neu-Särichen, Mückenhain und Zentendorf vorzudringen und den deutschen Gegner bei Reichenbach zu vernichten. Gegenüber standen zur deutschen Verteidigung Teile auf dem Rückzug befindlicher Einheiten. Sie gruppierten sich als „Festungs-Regiment Görlitz“.

Am Vormittag des 7. Mai gingen zwei sowjetische Regimenter zum Frontalangriff auf Görlitz über. Sie durchbrachen die Verteidigung und besetzten bis 14 Uhr Groß Krauscha, Zodel, Ober-Neundorf, Ludwigsdorf und Klingewalde. Meinshausen, Malitz und Anhang hatten nach diesen Angriffen nichts Wichtigeres mehr im Sinn, als schnellstens ihren ruhmlosen Abgang vorzubereiten. Und obwohl längst feststand, dass die Zwangsevakuierung ein ungeheures Verbrechen darstellte, muteten Meinshausen und Neise den Görlitzer Frauen und Kindern nach wie vor zu, auf vollkommen verstopften Treckstraßen ins Ungewisse zu ziehen. Für die Ausgewiesenen hieß das nichts anderes, so urteilte Chronist Eberhardt Giese am 7. Mai, „als nackte Flucht in das Elend der Landstraße.“

Ab Mittag überstürzten sich die Ereignisse. Gegen 12 Uhr besetzte die sowjetische Armee Charlottenhof. Etwa zur gleichen Zeit passierten kleinere Wehrmachtsverbände, aus Ludwigsdorf kommend, den Nikolaigraben in Richtung Zittau. Unter Mitnahme aller verfügbaren Transportmittel räumten schließlich Hitlers Stadthalter gegen 15 Uhr fluchtartig die Stadt Görlitz. Trotzdem befand sich Görlitz nach deren überstürzter Flucht keinesfalls schon außer jeder Gefahr. Auf der Bevölkerung lastete vor allem die Ungewissheit über das Verhalten noch anwesender Wehrmachtseinheiten sowie über den weiteren Verlauf der Kämpfe. Sowjetischen Aufklärungsflugzeugen waren diese Truppenansammlungen besonders am Bahnhof und an der Jägerkaserne nicht verborgen geblieben. Gegen sie richteten sich im Laufe des Tages wiederholte Tieffliegerangriffe, seit 16 Uhr auch Artillerieüberfälle. Überzeugt von der Aussichtslosigkeit weiteren Widerstandes, verließen zwischen 17 und 18 Uhr Restverbände der Wehrmacht das westliche Stadtgebiet und traten nach Passieren der zur Sprengung vorbereiteten Neißebrücken den Rückzug in Richtung Seidenberg an. Die bei Klingewalde stehenden Sicherungskräfte des „Festungsregimentes Görlitz“ wichen kurze Zeit später ebenfalls zur Neiße zurück. Sie bildeten gegenüber dem Vorwerk „Tischbrücke“ einen Brückenkopf und ermöglichten anderen kleineren Gruppierungen den Übergang zum Ostufer.

Aus eigener Initiative hissten am Nachmittag Bewohner ganzer Straßenzüge (zuerst Jochmannstraße, Pontestraße, Grüner Graben, Steinweg, Nikolaigraben, Weberstraße) „zögernd, jedoch als der Anfang gemacht war, schnell und umfangreich, weiße Fahnen“. Das rasche Handeln der Bevölkerung erwies sich für Görlitz von großer Tragweite, denn, wie später sowjetische Soldaten erzählten, notierte der Chronist Eberhardt Giese, „haben die russischen Aufklärer die Beflaggung rechtzeitig festgestellt, dies habe die russischen Angreifer veranlasst, gegen Görlitz nicht das schwerste Geschütz einzusetzen“.

Um 21 Uhr überschritt russisches Militär ostwärts des Friedhofes die nördliche Stadtgrenze. Geringfügigen Widerstand letzter deutscher Nachhuten brechend, drangen sie spät abends über den Ziegeleiweg und die Neugasse bis zur Finstertorstraße vor. Massive Sperren im Finstertor verhinderten zunächst ein zügiges Vorgehen. Nach kurzem Sondieren wurde zwischen den Grundstücken Finstertorstraße 5 und 6 ein direkt in die Rothenburger Straße führender Treppenabgang gefunden, der es ihnen ermöglichte, nunmehr auf einer Hauptstraße in Richtung Stadtinneres vorzufühlen.

Der allgemeine gefechtsmäßige Einzug begann im Morgengrauen des 8. Mai. Obwohl Görlitz und der Landkreis mehrere Monate Aufmarschraum für Angriffsoperationen von Schörners Heeresgruppe war, wurde das äußere Bild der Stadt kaum durch größere Zerstörungen beeinträchtigt. Dennoch: Der sinnlose Widerstand der Wehrmacht kostete Görlitz 37 total zerstörte und 1 750 beschädigte Gebäude.

Bearbeitet nach mehreren Aufsätzen einer Zusammenstellung von Peter Wenzel, Görlitzer Ratsarchivar a. D.