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Wer am lautesten schreit, der hat selten recht

In Altkötzschenbroda wird weiter über Flüchtlinge geredet. Aber in einer neuer Form.

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© Arvid Müller

Von Ines Scholze-Luft

Radebeul. Kommt Ihnen das bekannt vor? Zur Geburtstagsfeier von Oma Hermine hat sich die Familie geschworen: Kein Wort über Politik. Die versammelte Clique ringt sogar Onkel Richard das Versprechen ab, wenigstens dieses eine Mal auf seine ellenlangen Monologe über die Qualität der amerikanischen Präsidenten und derer, die es werden wollen, zu verzichten.

Große Zustimmung, seltene Einigkeit. Die allerdings nicht lange hält. Denn als dann doch das Stichwort Flüchtlinge fällt, ist es mit der selbst auferlegten Beschränkung vorbei. Nach dem unheilvollen Motto „Wer am lautesten schreit, hat recht“, werden schließlich fast alle in den Brüllstrudel hineingerissen. Bierchen und Weinchen tun das ihre. Nur wenige Gäste sitzen still, traurig und beschämt im Feierkreis, den Oma Hermine schon lange verlassen hat.

Was ist da nur los? Familien und Kollegen zerstreiten sich. Langjährige Beziehungen zerbrechen. Wer eine andere Ansicht hat, ist mein Feind. Was als Satz so nicht auftaucht, scheint doch allem Tun zugrunde zu liegen. Wie sonst sind die Auseinandersetzungen zu erklären, bei denen jeder froh ist, dass sie ob ihrer Schärfe nicht auch noch in körperlichen Verletzungen enden.

Hass, Wut und Aufruhr haben auch Radebeul – die angeblich so harmonische Stadt mit den vielen wohlsituierten Leuten – schon lange erreicht. Beängstigend, sagen die einen, die das spüren. Was dagegen tun, sagen die anderen. Doch wie?

Zwei Radebeuler Ehepaare und das Pfarrerehepaar der Friedenskirche haben sich für ein ganz besonderes Gesprächsangebot zusammengetan. Für alle, die eine Meinung haben und die gern mal kundtun würden, ohne dass ihnen gleich jemand ins Wort fällt. Denn wo Dialog, Zuhören, Akzeptieren eines anderen Standpunktes nicht mehr möglich sind, ist der Frieden in Gefahr.

Das wollen die Organisatoren von „Miteinander reden in Kötzschenbroda“ abwenden und haben sich dafür eine spezielle Form einfallen lassen. Ein Gespräch, an dem sich jeder beteiligen kann, wo es keinen Meinungsführer, sondern Moderatoren gibt. Und keine richtige oder falsche Meinung, keinen Vortrag mit breiter Grundlagenvermittlung. Sondern einfach die Chance zum Mundaufmachen. Zum Zuhören, Verstehen und Aushalten, sagt Friedenskirch-Pfarrerin Annegret Fischer.

Der Luthersaal als Treffpunkt soll nicht nur der Ort sein, an dem sich Christen treffen, sondern an den alle Menschen eingeladen sind. Kirchenräume lassen sich am praktischsten bespielen, so die Pfarrerin. Und knüpft an die „Reden in Kötzschenbroda“ an, die legendäre Veranstaltungsreihe mit dem Radebeuler Professor Ulfrid Kleinert als einem der Initiatoren. Diese Reihe, so Fischer, hat zwar jetzt Sendepause, ist aber nicht abgeschafft, denn Fortführer aus der nächsten Generation sind gefragt.

Bei beiden im Namen so ähnlichen Angeboten geht es in erster Linie um Frieden, sagt die Pfarrerin. Um Kultur statt Gewalt, auch in der Sprache. Nichts darf polarisiert, niemand manipuliert werden, ergänzt Mitorganisatorin Elke Siebert.

Geredet wird erst im Zweiergespräch, dann in kleinen Gruppen. Damit jeder mal drankommt mit seiner persönlichen Betroffenheit, ohne den allgemeinen Frustsack zu öffnen, so Siebert. Die drei bisherigen Abende seien sehr lebendig, hoch intensiv und sehr offen verlaufen. Nächste Woche steht Nummer vier an: „Jetzt wird’s mir zu bunt! – Grenzen sind notwendig!?“.

Friedenskirche Radebeul, Luthersaal, Mittwoch, 2. November, 20 Uhr, „Miteinander reden in Kötzschenbroda“