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Wer hat’s erfunden? Ein Dresdner!

Mit seinem Krippenkinderwagen hat Willy Wotschke Erzieherinnen das Leben erleichtert, von den 50er-Jahren bis heute.

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Von Anna Hoben

Blaues Gestänge, Sitze mit Bezug im Retroschick, in der Mitte ein Tisch, auf den vielleicht kein ganzes Picknick passt, aber doch zumindest für jeden ein Kakao. Die Zweijährigen Hajo, Emilio und Sarah sind zwar etwas schweigsam drauf, aber dass sie sich in dem Kinderwagen so wohl fühlen, als wäre er ihr eigenes Wohnzimmer, merkt man trotzdem sofort. Mit ihrer Erzieherin Jana Köhler sind sie an diesem Vormittag in Lockwitz unterwegs. Ausnahmsweise sitzen nur drei Kinder im Wagen, normalerweise sind es fünf. Dass die Tagesmutter sie so bequem schieben kann, alle miteinander, hat sie einem Mann namens Willy Wotschke zu verdanken.

Ein herrliches Kinderleben: Hajo, Emilio und Sarah (im Wagen, v.l.) lassen sich von ihrer Tagesmutter Jana Köhler (r.) herumkutschieren.
Ein herrliches Kinderleben: Hajo, Emilio und Sarah (im Wagen, v.l.) lassen sich von ihrer Tagesmutter Jana Köhler (r.) herumkutschieren. © Sven Ellger
WillyWotschke war auch ein guter Hobbyfotograf, wie das Selbstporträt von 1930 beweist.
WillyWotschke war auch ein guter Hobbyfotograf, wie das Selbstporträt von 1930 beweist. © dpa

Dieser Willy Wotschke war ein vielseitig interessierter Mensch: versierter Hobbyfotograf, begeisterter Wanderer und Naturfreund. Er brachte sich Esperanto bei und glaubte an die Verbreitung der künstlichen Weltsprache; einmal besuchte er sogar einen Kongress dazu in Brüssel. Vor allem aber war der Dresdner Willy Wotschke ein Tüftler und Bastler: erfinderisch und technisch sowie handwerklich interessiert.

„Massenbedarfsartikel“ in der DDR

Dass die Sachsen ein erfinderisches Völkchen sind, ist bekannt. Und so ist es geradezu logisch, dass ein Gefährt, das auch heute von den Gehwegen der Stadt nicht wegzudenken ist, einst in Dresden ausgetüftelt worden ist. Gestatten: Willy Wotschke, seinerzeit Werkstattmeister bei der Straßenbahn, Vater des sogenannten Krippenkinderwagens und Vater von Ingrid Bochmann, 73, die seine Geschichte erzählt,

damit sie nicht in Vergessenheit gerät.

Nach dem Krieg fehlten Männer, deshalb arbeiteten bei der Dresdner Straßenbahn auch viele Frauen, als Schaffnerinnen und Fahrerinnen im Schichtdienst. Deren Kleinkinder mussten während der Arbeitszeit untergebracht werden. In Blasewitz, auf der Prellerstraße, befand sich die betriebseigene Wochenkinderkrippe. Zwischen der Hauptwerkstatt der Straßenbahn in Tolkewitz und der Krippe bestand ein enger Kontakt. Auch Willy Wotschke war im Rahmen einer Arbeitspatenschaft immer wieder dort, zum Beispiel um kaputte Spielsachen zu reparieren.

Wenn nun eine Erzieherin mit den Kindern spazieren ging, sah das damals etwa so aus: Sie schob einen herkömmlichen Kinderwagen, in dem ein Kind saß. Am Griff hielten sich noch vier andere Kinder fest. Das konnte kein dauerhafter Zustand sein, dachte sich Willy Wotschke und hatte kurz darauf eine zündende Idee: einen Wagen für mehrere Kinder zu bauen.

Gedacht, gesagt, getan. Dem jungen sozialistischen Staat kam die Erfindung entgegen. Alle Betriebe mussten einen Beitrag zu der Initiative „Massenbedarfsartikel für die Bevölkerung der DDR“ leisten. In der Hauptwerkstatt des Straßenbahnhofes in Tolkewitz wurde Wotschkes Erfindung umgesetzt. Die Räder hatten Alu-Radkappen und bestanden aus Gummi von Reifen ausgedienter Omnibusse. Die Sitze waren aus dem Holz der Straßenbahnsitze, die Seitenteile aus der Außenhaut der Bahnen, die Griffe zum Schieben der Wagen ließen sich zusammenklappen, was Platz sparte.

Auf Wotschkes Anregung hin erschien Anfang der 1950er-Jahre in der damaligen illustrierten Frauenzeitschrift „Die Frau von heute“, der Vorgängerin der „Für Dich“, ein Artikel über den neuen Sechssitzer für Krippenkinder. Daraufhin stieg die Nachfrage enorm. Die Straßenbahn-Werkstatt sah sich außerstande, all die Aufträge, die aus der gesamten Republik eingingen, auszuführen. Willy Wotschke setzte sich mit der Kinderwagenfirma Vogel in Verbindung, die von da an die Produktion des Sechssitzers übernahm.

Der ist noch heute beliebt, gerade in einer geburtenstarken Stadt wie Dresden. Die Erzieherin Jana Köhler beispielsweise schwört auf ihren Wagen. Vor 15 Jahren hat sie sich ein Exemplar zugelegt, das zum damaligen Zeitpunkt, so schätzt sie, schon etwa zehn Jahre in einer Krippe im Einsatz gewesen war. Mehr als 70 Kinder hat sie seitdem mit dem Gefährt transportiert: bei Spaziergängen an die Elbe, im Bus zum Zoo, nach Kreischa oder auch im Zug nach Bad Schandau.

Im Kinderwagen haben sie Puppenfasching gefeiert, und einmal stieg eine Katze zu, sozusagen als blinder Passagier. Im Sommer passen locker sechs Kinder in den Wagen, im Winter, mit dicken Schneeanzügen, wird es eng. Neugierige Blicke und Kontakt mit anderen Reisenden oder Spaziergängern gibt es stets inklusive: „Wir treffen immer jemanden, der uns darauf anspricht“, sagt Jana Köhler. Manche freuen sich über den „richtigen alten DDR-Wagen“, dabei ist er so alt nun auch wieder nicht. Andere witzeln darüber, dass auf dem Tisch in der Mitte ja noch reichlich Platz für Bierflaschen sei.

Willy Wotschke hätte wahrscheinlich darüber gelacht. Seine Tochter Ingrid Bochmann hat ihren Vater als „immer freundlich, hilfsbereit und äußerst kinderlieb“ in Erinnerung. Als er Opa wurde, war er glücklich. Finanziell brachte ihm seine Erfindung nichts. Mit 59 Jahren machte der Mann, der sein ganzes Arbeitsleben bei der Straßenbahn verbracht hatte, noch seinen Führerschein. Fünf Jahre später, am 13. Februar 1967, starb er, schwer herzkrank, bei einer Beratung im Betrieb.