SZ +
Merken

Wer zuhören kann

Seit drei Jahren unterstützt Annett Steinigen eine ältere Dame aus Pirna. Ehrenamtlich. Sie bekommt viel zurück.

Teilen
Folgen
NEU!

Von Mareike Huisinga

Dienstagnachmittag. Gertraude Wünsche (88) sitzt in ihrem hellen Wohnzimmer und schaut auf die Uhr. Endlich, es klingelt. Die ältere Dame strahlt, als Annett Steinigen ihre Wohnung betritt. Es folgt eine herzliche Begrüßung, dann kocht die Besucherin einen starken Kaffee, die Kekse stehen schon auf dem Tisch. Gertraude Wünsche holt ein großes blaues Heft aus dem Schrank. In diesem hat die Seniorin ihre Lebensgeschichte aufgeschrieben. Sie stammt aus der Oberlausitz, wie man an ihrem rollenden „R“ eindeutig erkennt. In der NS-Zeit war sie dienstverpflichtet in der Fallschirmfabrik in Seifhennersdorf. „Um drei Uhr musste ich aufstehen. Es war eine schlimme Zeit, wir wurden um unsere Jugend betrogen“, erinnert sie sich und blickt dabei von dem Schwarz-Weiß-Foto in dem Heft auf, um Annett Steinigen anzublicken. Die hört zu, nickt und versteht.

Seit drei Jahren besucht Annett Steinigen jeden Dienstag „ihre“ Gertraude Wünsche. Die 45-Jährige ist ehrenamtliche Seniorenbegleiterin. „Vor vier Jahren wurde ich leider EU-Rentnerin, ich suchte nach einer neuen Aufgabe“, erklärt Steinigen ihr Engagement.

Ihr Aufgabenbereich ist vielseitig: Sie begleitet Gertraude Wünsche zu Ärzten, zum Friseur, bei notwendigen Behördengängen oder schraubt auch mal eine kaputte Glühbirne aus, um sie zu ersetzen. Hektische Blicke auf die Uhr wirft sie nie.

Nur keine Eile

Sie nimmt sich Zeit. Für Annett Steinigen ist die Tätigkeit eine Erfüllung, für die sie zwar kein Geld erhält, dafür aber viel Dankbarkeit. „Das Strahlen in dem Gesicht, wenn sich Frau Wünsche erinnert, ist mir viel mehr wert“, sagt Annett Steinigen. Gertraude Wünsche ist gerührt, ergreift die Hand der Jüngeren und stellt fest: „Trotz des Altersunterschiedes sind wir mittlerweile Freunde geworden.“

Seit fünf Jahren gibt es in Pirna die Kontaktstelle Seniorenbegleitung, die von Christiane Meyer-Rönner gegründet wurde. Aktuell hat Pirna 20 Seniorenbegleiter, die meisten sind Frauen. „Wir können die Nachfrage damit decken, aber es wird knapp, weil der Bedarf ständig steigt. Weitere Interessenten für die Seniorenbegleitung sind sehr willkommen“, sagt Meyer-Rönner. Nicht alle Seniorenbegleiter arbeiten ehrenamtlich. Es gibt auch die Möglichkeit, die Tätigkeit vergütet zu bekommen, erklärt die Leiterin.

Die Helfer sind gut geschult. Am Anfang steht eine Weiterbildung, die 60 Stunden umfasst. Während dieser Schulung werden verschiedene Themen angesprochen, zum Beispiel Trauerverarbeitung, Umgang mit Demenzkranken, Patientenverfügung und Vorsorgevollmachten. Danach schließt sich ein Praktikum an. Am Ende steht ein Abschlussgespräch, danach erhält jeder Schulungsteilnehmer ein Zertifikat. Erst vor wenigen Tagen haben sieben neue Seniorenbegleiter ihre Ausbildung in der Kontaktstelle in Pirna erfolgreich abgeschlossen.

Eine wichtige Voraussetzung sollten die Seniorenbegleiter mitbringen: Zuhören können. Während ihrer Tätigkeit treffen sich die Begleiter einmal im Monat zu einer Praxisberatung in dem Zentrum für Begegnung, Beratung, Bildung, um sich auszutauschen oder auch gezielte Fragen zu stellen. Bei Problemen ist Christiane Meyer-Rönner jederzeit Ansprechpartner. Für die Betreuten ist diese Hilfe kostenlos. Bedingungen, wer sie in Anspruch nehmen darf, existieren nicht. „Der Begriff Senior ist flexibel, auch ein Mensch Ende 50 kann Probleme haben und auf Hilfe angewiesen sein“, erklärt Meyer-Rönner.

Hilfe ist kostenlos für Senioren

Mittlerweile haben die beiden Damen den Kaffee ausgetrunken. Annett Steinigen räumt flink das Geschirr ab und packt die restlichen Kekse wieder in die Packung zurück. Liebevoll verabschiedet sie sich von Gertraude Wünsche. Als sie aus der Tür tritt, ruft sie noch zurück: „Bis nächsten Dienstag!“ Gertraude Wünsche lächelt und weiß: Sie ist nicht allein.

Kontaktstelle Seniorenbegleitung. Steinplatz 21, Pirna, 03501 790583