SZ +
Merken

Werner, wo bist du?

Seit fast 70 Jahren vermisst Hans Kohn aus Görlitz seinen Bruder. Er ist in Königsberg verschollen.

Teilen
Folgen
NEU!

Von Irmela Hennig

Werner hat nur noch ein Bein. Sollte also jemand mit zwei gesunden Beinen behaupten, er sei Werner, dann wüsste Hans-Georg Kohn gleich: Das stimmt nicht. Das fehlende Bein ist ein Puzzleteil in der Erinnerung des 76-Jährigen. Eines dieser Bruchstücke, aus denen Hans-Georg Kohn seine frühe Kindheit zusammensetzt. Die spielte sich in Königsberg ab. In jener Stadt, die 1871 zur nordöstlichsten Großstadt des Deutschen Reiches wurde. Und heute als Kaliningrad zu Russland gehört.

Hans-Georg Kohn Görlitz
Hans-Georg Kohn Görlitz

Oberhaberberg hieß die Straße, in der Hans-Georg Kohn aufgewachsen ist. In einer Art frühen Neubausiedlung. Historische Postkarten des Bildarchivs Ostpreußen zeigen Gründerzeitbauten, wie man sie aus Görlitz kennt. Nur ein paar Treppen sei es von dort zu einem Park gewesen. Warum das wichtig ist? Weil Werner, der vermisste Werner, das vielleicht wiedererkennt. Weil die Bruchstücke in der Erinnerung von Hans-Georg Kohn auch Bruchstücke in jener von Werner sind. Und der sich dann besinnt auf die Familie, die er im Winter 1945/46 verloren hat.

„Der Werner blieb zurück“

Werner Kohn, geboren am 7. Oktober 1934, ist Hans-Georg Kohns älterer Bruder. Zusammen mit ihm und der kleinen Schwester Sieglinde ist er in jenem Nachkriegswinter allein in der Wohnung. Die Mutter war gerade verstorben. Hans-Georg Kohn weiß noch, dass sie sie mit einem Schlitten, eingewickelt in Decken, zum Friedhof geschafft haben. Auch die Großmutter, die mit im Haushalt lebte, war da schon tot. Der Vater – an den die Erinnerungen nur ganz schwach sind – im Krieg in Rumänien seit August 1944 vermisst. Die Kinder sich selbst überlassen. „Da ging plötzlich eine Tür auf. Jemand hat mich und meine Schwester mitgenommen. Der Werner blieb zurück“, erzählt Hans-Georg Kohn, der in Görlitz lebt. Und obwohl er es schon zigmal gesagt hat, hat die Zeit diesen Eindrücken nicht den Schrecken genommen. Seitdem jedenfalls fehlt vom großen Bruder jede Spur.

Einmal will ihn noch jemand in Litauen gesehen haben. Doch die Suche über einen Bekannten, der wie Hans Kohn Bierzubehör und Ähnliches sammelt, brachte nichts. Auch die litauische Botschaft konnte nicht helfen.

Werner gilt nun als Wolfskind. Der Wolfskinder Geschichtsverein bezeichnet damit deutsche Kinder und Jugendliche ohne Anschluss an Verwandte, Familie oder Bekannte. Sie versuchten im „Frühjahr 1947 dem drohenden Hungertod im nördlichen Ostpreußen zu entgehen“ und flüchteten. Einige gerieten ins Baltikum, unter anderem nach Litauen. Teilweise wurden sie von Bauern aus der Region als Arbeitskräfte angeworben. Waren dort als Deutsche aber nicht immer gern gesehen. Sie verschleierten ihre Herkunft, nahmen teilweise sogar eine neue Identität an. Eine Betroffene, die heute noch in Kaliningrad lebt, spricht von 200 Kindern allein aus Königsberg. Schätzungen gehen davon aus, dass sich 1948 um die 5 000 Kinder und Jugendliche in Litauen aufhielten.

Hans-Georg Kohn würde gern erfahren, ob Werner einer von ihnen ist. Schon in seiner Kindheit begann die deutsche Pflegefamilie mit der Suche. Über das Rote Kreuz in Hamburg. Darüber fanden seine Pflegeeltern und die so geschätzte Pflegeoma aus dem brandenburgischen Beeskow schließlich Verwandte von Hans-Georg Kohn und seiner Schwester Sieglinde. Einen Onkel im Allgäu und zwei Tanten. Eine, die Tante Erna, lebt heute noch in Coswig bei Dresden und wird im Oktober 100 Jahre alt.

Verschollene Verwandte – auch fast 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges kein Einzelfall. Bis heute gehen beim Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes Anfragen zur Rubrik „Zweiter Weltkrieg“ ein. 2011 und 2012 waren es um die 13 000. Ein Jahr später sogar über 16 000. Laut Dieter Schütz, Pressesprecher des Generalsekretariats beim DRK, gelang es bislang, „mehr als 1,2 Millionen Schicksale von verschollenen Soldaten und Zivilgefangenen sowie rund 291 000 Kindern aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges zu klären“. Doch der Bedarf sei weiterhin groß: Die Schicksale von über 1,3 Millionen Menschen seien bis heute ungeklärt.

Hans-Georg Kohn, der einst Maurer gelernt hat, dann bei der Armee in Berlin seine heutige Frau traf und schließlich lange als Wachmann im Justizvollzug in Görlitz gearbeitet hat, will die Hoffnung nicht aufgeben. „Er muss doch zu finden sein“, sagt der Ruheständler in seiner Wohnung in Görlitz – Weinhübel. Seit 1969 wohnen er und seine Frau Ursula, eine studierte Bekleidungsfachfrau, hier. Die beiden Söhne sind in dem Viertel, das inzwischen von hohen Bäumen umgeben ist, groß geworden.

Sohn Hartmut, der als Koch in Dresden arbeitet, lässt das Schicksal von Onkel Werner ebenfalls keine Ruhe. Er hat selbst intensiv mit der Suche begonnen. Zum Beispiel bei der russischen Botschaft. „Aber die Russen mauern“, sagt Hartmut Kohn. Von dort gebe es wenig Hilfe. Dabei müssten die doch wissen, wenn ein Kind wie Werner damals eine neue Identität verpasst bekam. Betroffene selbst hätten wohl bis heute Angst, sich zu erkennen zu geben. Denn leben unter falschem Namen – das sei in Russland bei Strafe verboten.

Entmutigen lässt sich Hartmut Kohn nicht. Als Marathonläufer macht er auf das Schicksal seines Onkels aufmerksam. Er hat Medien eingeschaltet, sogar einen, allerdings von den Kohns bezahlten, Beitrag im russischen Fernsehen erwirkt. Auch deutsche Sender haben schon berichtet. Bislang fehlt der Erfolg. Hinweise auf Werner gab es nicht. Nun haben sich junge Radsportler dem Schicksal des Werner Kohn angenommen. Der Sport- und Jugendhilfeverein Querdurch mit Sitz in Görlitz organisiert eine Radtour nach Kaliningrad. In der rund 430 000 Einwohner zählenden Stadt wollen sie mit Zeitzeugen sowie Historikern sprechen und auf das Schicksal von Werner Kohn aufmerksam machen.

Der Frau wegen nach Görlitz

Hans-Georg Kohn hat daheim in Görlitz-Weinhübel etliche Szenarien durchdacht und durchgrübelt. Natürlich ist es möglich, dass Werner nicht mehr lebt. Vielleicht hat er aber auch einen neuen Namen, nennt sich jetzt zum Beispiel Kon. Eventuell hat ihn keine Suchmeldung, kein Fernsehaufruf je erreicht. Oder er will sich nicht melden. Aus Angst oder warum auch immer.

Als ruhigen Typ beschreibt Hans-Georg Kohn seinen älteren Bruder. Er selbst sei eher rebellisch gewesen. Wie genau der große Bruder das Bein verloren hat, weiß der jüngere mit dem weißen Haar nicht mehr. Nur noch, dass Werner in einem Lazarett auf einer Trage lag. „Dort haben sie ihm das Bein abgenommen.“

Auch das ist so ein Puzzleteil der Erinnerung. Eine Spur. Dass sie nicht weg sind aus Königsberg in den letzten Kriegsmonaten, dass lässt Hans-Georg Kohn bis heute nicht zur Ruhe kommen. „Wir sind in Königsberg geblieben, weil die Großmutter nicht rauswollte. Und meine Mutter wollte sie nicht allein lassen. Das war unser Verderben“, sagt der Wahlgörlitzer.

Er kam übrigens der Frau zuliebe in die Neißestadt. Ein Görlitzer Bekleidungswerk wollte sie unbedingt einstellen. „Deswegen haben die uns eine Wohnung und meinem Mann eine Arbeit besorgt“, erzählt Ursula.

Hans-Georgs Schwester Sieglinde ist bereits vor Jahren verstorben. Abgesehen von der fast hundertjährigen Tante und ein paar Cousins und Cousinen ist er nun von der Familie der Einzige. Es sei denn, es findet sich doch noch eine Spur von Werner Kohn, dem Jungen der 1945/46 verschwand.