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Wie der NVA-Chef ins Stasi-Visier geriet

Armeegeneral Heinz Hoffmann wurde jahrelang von Mielkes MfS ausspioniert. Die Akten zeichnen das Bild eines Suffkopfs und Schürzenjägers – und eine wenig gefechtsbereite Armeeführung.

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Von Peter Heimann, Berlin

Bei der Nationalen Volksarmee der DDR ging es offenbar nicht immer nur um die militärische Gefechtsbereitschaft. Eine zentrale Rolle bei der Planung von Kommandostabsübungen spielte Anfang der 60er-Jahre unter Führung von Armeegeneral Heinz Hoffmann, später auch SED-Politbüromitglied, immer auch „die Anwesenheit ausgesuchter Soldatinnen oder Unterhaltungskünstlerinnen“. Auf Geheiß des Ministers, so offenbaren jetzt aufgearbeitete Stasi-Akten, mussten die sogar zuweilen über große Entfernungen geholt werden.

Dann spielten sich, nach den Berichten, entwürdigende Szenen ab. Über eine „regelrechte Orgie“ während einer Stabsübung im Juni 1964 im NVA-Sonderzug berichtet etwa IM Teko: Die Frauen seien systematisch unter Alkohol gesetzt, unmöglich betastet, abgeknutscht und (ihnen) teilweise die Kleider zerrissen“ worden. Die Männer seien „geil wie ein paar gehörnte Böcke“ gewesen.

Notizbücher kontrolliert

Der Politikwissenschaftler Siegfried Suckut, viele Jahre Leiter der Abteilung Bildung und Forschung der Stasi-Unterlagen-Behörde, hat die rund 1000 Seiten des Aktenbestandes GH 30/72 über Hoffmann ausgewertet. In einem Vortrag berichtetet er jetzt über die teils überraschenden Erkenntnisse: „Entgegen den bisherigen Annahmen der Stasi-Forschung hat das MfS in diesem Fall ein führendes SED-Mitglied überwacht und Anfang der 60er-Jahre versucht, Hoffmanns Ablösung zu erreichen.“

Stasi-Chef Erich Mielke ließ Hoffmanns Notizbücher und seinen Panzerschrank kontrollieren, Briefe seiner in Mannheim lebenden Mutter abfotografieren und setzte etliche Spitzel auch aus dem persönlichen dienstlichen Umfeld ein. Der wichtigste unter den bis zu 30Informanten war laut Suckut Generalmajor Bernhard Bechler – Deckname „Wölfi“ – seinerzeit Vize-Kommandeur der Militärakademie Dresden, und mit Hoffmann befreundet. Selbst die Spitze der NVA berichtete der Stasi über die Lage der NVA: So ein IM Birnbaum, hinter dem sich der spätere Chef des Hauptstabes, Generaloberst Fritz Streletz, verbarg.

Die Akten, aufbewahrt in der besonders gesicherten „Geheimen Ablage“, ergänzen das bisherige Bild Hoffmanns. 1910 geboren, schon mit 20 lupenreiner Stalinist, im spanischen Bürgerkrieg verwundet, später als Oberleutnant in den Diensten der Roten Armee, dann oberster Militär der DDR und SED-Politbüro-Mitglied.

Laut Suckut ein „martialisch auftretender“ Machtmensch, der fluchtbereite DDR-Bürger mit Gewehrkugeln drohte und einen Kernwaffenkrieg in Europa für eine mögliche Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln hielt.

Und jetzt auch noch Alkoholiker und Schürzenjäger. Suckut drängte sich nach Lektüre der Akte zunächst die Frage auf: „War der Mann denn jemals nüchtern?“

In den Berichten geht es um „moralische Verfehlungen“ – Alkoholexzesse, ständig wechselnde Frauenbekanntschaften, orgienartige Vorkommnisse: Wenn Hoffmann ins Manöver zog oder zu Tagungen aufbrach, legte er Wert auf die Anwesenheit von Soldatinnen. Frauen, so bekannte er gegenüber einem weiblichen IM, seien nun mal seine „Schwäche“.

Bei einer Tagung bekam ein Oberstleutnant vom angesoffenen Chef die Order, Frauen „heranzuschaffen“. Nachdem der Mann in Prora fündig wurde, sei die Nacht „sehr anstrengend gewesen“, vertraute ein IM der Stasi später an. 1964 beförderte Hoffmann eine als Bedienung eingesetzte Soldatin vor seinen Offizieren spontan vom Unteroffizier zum Stabsfeldwebel.

Kritisch vermerkten die Kontrolleure im MfS auch zahlreiche Leitungsmängel in der Armee, für die sie den Minister verantwortlich machten. Für die Großübung „Quartett“ des Warschauer Pakts 1963 kam die zuständige Abteilung des MfS zu einem vernichtenden Urteil: Die Besprechungen im Hauptstab seien „unmilitärisch“ und „unkorrekt“, sowie nach Überzeugung der Stabsoffiziere „Zeitverschwendung“ gewesen. Der verantwortliche General sei als „nicht ernst zu nehmen“ angesehen worden. Ein NVA-General, so berichtete Suckut weiter, habe in angetrunkenem Zustand einen Oberst beschimpft, weil dieser „völlig versagt“ habe. Alle hätten geschwiegen, weil das völlig unberechtigt gewesen sei und sie die peinliche Situation beenden wollten. Exorbitant sei nur der Alkoholkonsum gewesen. „Was wir bei ,Quartett‘ gesoffen haben, geht in keinen Tankwagen“ wurde ein Oberst zitiert.

Streitigkeiten zwischen Stabsoffizieren drohten zuweilen in Schlägereien auszuarten. Ein General habe sich betrunken neben seinen Stuhl gesetzt, ein anderer habe seine Kollegen auf dem Korridor nicht mehr erkannt. Manche redeten sich mit falschem Dienstgrad an.

„Parteiliche Inkonsequenz“

Stasi-Fazit: „Begünstigt durch den laufenden übermäßigen Alkoholgenuss und die ausschweifende Lebensweise (außereheliche Beziehungen) des Genossen Armeegeneral Hoffmann“ habe sich im Ministerium eine Lage ergeben, die durch „parteiliche Inkonsequenz, Kritiklosigkeit, Unterwürfigkeit und Karrieristentum“ gekennzeichnet sei. Das sollte zu „raschen Entscheidungen“ führen: Mielkes Vorschlag ging offenbar an SED-Chef Walter Ulbricht.

Doch Hoffmanns Absetzung scheiterte – wahrscheinlich am Veto von Marschall Andrei Gretschko, dem Oberkommandierenden des Warschauer Paktes. Hoffmann erfuhr anscheinend von Gretschkos Rettungstat, als der im März 1964 geheim die DDR besuchte.

Suckut hält die Beobachtung Hoffmann für einen Sonderfall. Mit weitere Stasi-Akten über SED-Führungsmitglieder rechnet er nicht. Gleichwohl müsse man wohl die bisherigen Annahmen zum Verhältnis MfS – SED nicht nur ergänzen, sondern auch modifizieren.