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Wie Deutsche zu Islamisten werden

Unter 400 deutschen Muslimen im Nahen Osten kämpfen möglicherweise auch zwei Dippoldiswalder. Ihre Welt ist eine andere.

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© picture alliance / dpa

Von Ulrike Keller

Zwei junge Männer aus offenbar behütetem Elternhaus brechen aus den geordneten Verhältnissen aus. Sie konvertieren zum Islam, radikalisieren sich, ziehen in den Nahen Osten, womöglich, um für ihren Glauben auch mit Waffen einzutreten. Der Weg von Samuel W. und Max P. aus Ortsteilen von Dippoldiswalde scheint schwer nachvollziehbar. Die SZ hat Antworten auf drängende Fragen gesucht.

Welche Gefahr geht hierzulande von Islamisten aus?

Experten rechnen damit, dass die irakische Terrormiliz IS (Islamischer Staat) auch in Deutschland Anschläge verüben will. „Die Organisation hat gezeigt, dass sie in Europa aktiv werden will, und die vielen deutschen Rekruten geben ihr hierzu das Personal an die Hand“, sagt Islamwissenschaftler Dr. Guido Steinberg von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Festzustellen, wer von den Rückkehrern gefährlich werden kann, sei die schwierige Aufgabe der Sicherheitsbehörden.

Dr. Michael Kiefer vom Institut für Islamische Theologie an der TU Osnabrück macht die Gewaltbereitschaft des Einzelnen davon abhängig, was er vor Ort erlebt hat. „Der eine kann traumatisiert sein, der andere verroht durch all die Bestialitäten.“ Letztere

Sprechen die Fälle in Dipps für eine neue Entwicklung in Sachsen?

Das Landesamt für Verfassungsschutz Sachsen weist bereits seit 2008 auf die Problematik der salafistischen Bestrebungen hin, die zu diesem Zeitpunkt im Umfeld der Al-Rahman-Moschee Leipzig festgestellt wurden. In den vergangenen Jahren mehrten sich Hinweise, dass auch an anderen Orten in Sachsen kleinere nicht strukturierte Gruppen ohne feste Organisationsanbindung existieren, so die Behörde.

Mit welchem Ziel reisen Deutsche wie Samuel und Max in den Nahen Osten?

„Es gibt viele, die nur für ein paar Monate runter gehen, um dort zu kämpfen“, erklärt Guido Steinberg. Sein Eindruck ist jedoch, dass sich die Zahl derjenigen erhöht hat, die im dortigen islamischen Staat leben, also bleiben, wollen. Seines Wissens bekommen sie vor Ort oft leer stehende Häuser zugewiesen. Davon gibt es durch die große Zahl an Kriegsflüchtlingen reichlich. Die Nationalitäten bleiben weitgehend für sich. Ausgereiste Deutsche leben also in der Regel mit anderen muslimischen Deutschen in einem Dorf.

Wie organisieren junge Männer wie die Dippser die Reise in den Nahen Osten?

„Das läuft nur über persönliche Kontakte“, sagt Guido Steinberg. Der Ausreisewillige wird in Deutschland mit einer Kontaktperson zusammengebracht. Manchmal erhält er von dieser ein Empfehlungsschreiben. Damit wendet sich er sich zum Beispiel in der Türkei an Leute, die ihn über die Grenze bringen. Islamwissenschaftler Michael Kiefer hat Hinweise, dass Deutsche mit Adressen in Istanbul oder unweit der Grenze ausgestattet werden, um organisiert ins Land zu kommen.

Gibt es auch deutsche Frauen, die zum radikalen Islam übertreten?

Ja, aber nicht viele. Knapp unter zehn Prozent der Deutschen, die sich radikalisieren und in den Nahen Osten gehen, sind weiblich. Nach den Untersuchungen von Guido Steinberg spielen sie in der Organisation keine Rolle, sondern kümmern sich um die Familie.

Michael Kiefer stimmt in dem Punkt zu, dass Frauen nicht kämpfen. Allerdings geht er von zum Teil großem Einfluss aus: „Frauen feuern die Männer an. Und sie können wie Führungskader agieren.“ In der Logistik und Versorgung der Gruppe hält er sie für entscheidend.

Was macht den radikalen Islam für junge Leute so reizvoll?

Der Experte Michael Kiefer sieht in radikalen islamischen Glaubensrichtungen umfassende Orientierungshilfen für junge Menschen. „Was geboten und verboten ist – es ist alles sehr klar. Eine Entlastung in der Weltdeutung“, sagt er. Dazu kommt das Gefühl, einer Gemeinschaft anzugehören, und die Überzeugung, Teil einer Avantgarde im göttlichen Dienst zu sein. „Das geht einher mit der Selbstermächtigung, anderen seinen Willen aufzuzwingen“, so Kiefer. „Sehr reizvoll für Männer, die wenig zu sagen hatten.“

Welche Persönlichkeiten sind für den radikalen Glauben besonders offen?

Es sind immer junge Leute, die sich auf der Suche befinden und neu orientieren wollen. Laut Studien der Sicherheitsbehörden handelt es sich beim gewaltbereiten Neosalafismus überwiegend um ein Männerphänomen, sagt Michael Kiefer. Die meisten seien unter 27 und Leute, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens gestanden hätten.

Wie läuft die Radikalisierung junger Leute in der Regel ab?

Nach den Erkenntnissen von Michael Kiefer findet die Kontaktaufnahme meist abseits der Moscheegemeinden statt. Das Internet spielt seiner Ansicht nach immer eine Rolle. Aber junge Leute werden auch auf Schulhöfen oder auf Benefizveranstaltungen für Flüchtlinge in Syrien etc. angesprochen. Fakt ist für ihn, dass es in der Regel in Gruppen geschieht. Auch in den Nahen Osten ginge keiner allein, sondern in Gruppenzusammenhängen.

Wann sollten die Eltern bei ihrem Kind aufmerksam werden?

Alarmzeichen ist, wenn sich das Verhalten und Auftreten des Jugendlichen ändert. Michael Kiefer rät, so lang wie möglich zu verfolgen, was das eigene Kind über WhatsApp oder Facebook verschickt. Manchmal müsse man auch den Umgang mit bestimmten Medieninhalten oder Freunden verbieten. Generell betont der Islamwissenschaftler: „Eine Radikalisierung geschieht nicht in wenigen Wochen.“ Und sie lässt sich unterbrechen. Schon mehrfach hat er erlebt, dass sie sich wieder verlor.

Was können Eltern bei dem Verdacht tun, dass ihr Kind in den Kampf will?

Der Islamwissenschaftler Guido Steinberg empfiehlt Eltern, sich an die Sicherheitsbehörden zu wenden. Er hält auch für durchaus gerechtfertigt, den Personalausweis und Pass wegzunehmen, um die Abreise vorerst zu verhindern.

Michael Kiefer, der auch in der Jugendhilfe arbeitet, glaubt, dass sich junge Erwachsene davon nicht aufhalten lassen, weil sie einfach einen neuen Pass oder Ausweis beantragen können. Der Gang zur Polizei wäre für ihn der letzte Schritt. Er gibt zu bedenken: „Dann fängt der Staatsschutz an zu ermitteln. Es entsteht eine Akte über mein Kind.“ Vielmehr wäre sein Weg, das Kind und alle Bezugspersonen von ihm zum Gespräch an einen Tisch zu holen oder eine Beratungsstelle aufzusuchen.

Wie sollen sich Eltern verhalten, wenn das Kind im Nahen Osten kämpft?

Michael Kiefer rät, mit dem Kind in Kontakt zu bleiben. „Es ist nicht das Ende, wenn es da unten ist“, sagt er. Es könne sein, dass es vor Ort feststellt, dass alles ganz anders ist und von selbst zurückkehrt.

An welche Anlaufstellen können sich betroffene Eltern wenden?

Unter Wissenschaftlern bekannt und anerkannt ist die Beratungsstelle Hayat beim Zentrum Demokratische Kultur in Berlin. Gefördert ist diese vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Kontakt per Mail an [email protected] oder telefonisch unter 030 42018042.