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Wie ein Sachse die Homöopathie erfand

Vor 200 Jahren begründete Samuel Hahnemann aus Meißen seine alternative Medizin. Heute ist sie weltweit verbreitet - und umstritten.

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Die längste Zeit seines Lebens verbrachte Samuel Hahnemann in Köthen. Dort steht in der Wallgasse sein Wohnhaus, das besichtigt werden kann. Und das Schloss Köthen zeigt eine Ausstellung zur Homöopathie, in der dieses Glasfenster zu sehen ist.
Die längste Zeit seines Lebens verbrachte Samuel Hahnemann in Köthen. Dort steht in der Wallgasse sein Wohnhaus, das besichtigt werden kann. Und das Schloss Köthen zeigt eine Ausstellung zur Homöopathie, in der dieses Glasfenster zu sehen ist. © dpa/Daniela David

Von Michael Bittner

Wer war der erfolgreichste Sachse der Geschichte? Den meisten kommen bei dieser Frage wohl Martin Luther, Friedrich Nietzsche oder Richard Wagner in den Sinn. Betrachtet man den weltweiten Einfluss, drängt sich aber noch ein anderer Mann auf: Samuel Hahnemann, der Erfinder der Homöopathie. Abermillionen Menschen rund um den Globus schwören auf die Lehre eines Mannes, der als Sohn eines Porzellanmalers 1755 in der Triebischvorstadt von Meißen geboren wurde. 

Auch die Mehrheit der Deutschen hat schon homöopathische Arzneimittel verwendet. Und die Homöopathie befindet sich nicht etwa auf dem Rückzug. Die Zahl derer, die ihr vertrauen, ist in den letzten Jahrzehnten gestiegen. Im Buchhandel findet der Kunde sogar „Homöopathie für Rinder“ und „Homöopathie für Pflanzen“. So ist jüngst auch der politische Streit um die Homöopathie mit neuer Schärfe ausgebrochen.

Unstetes Leben als Arzt und Autor

Samuel Hahnemann führte nach dem Besuch des Meißner Sankt-Afra-Gymnasiums und dem Studium der Medizin ein unstetes Wanderleben. Mit wechselndem Erfolg arbeitete er als Arzt und wissenschaftlicher Schriftsteller in Dutzenden deutschen Städten. In Leipzig lehrte er seit 1812 auch an der Universität, doch 1820 vergällte ihm der „Dispensierstreit“ mit der örtlichen Apothekerschaft den Aufenthalt: Nur in Ausnahmefällen wurde ihm erlaubt, seine Arzneimittel selbst herzustellen. Im folgenden Jahr berief ihn der Anhaltinische Herzog Ferdinand als Leibarzt nach Köthen, wo er erstmals im Leben wirklich sesshaft wurde. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er als gefeierter Modearzt schließlich in Paris. Die homöopathische Lehre, die er letztgültig in dem Buch „Organon der Heilkunst“ niederlegte, machte ihn umstritten und unsterblich.

Seinen Landsmännern Luther, Nietzsche und Wagner gleicht Samuel Hahnemann in der so sächsischen Mischung aus Minderwertigkeitsgefühl und übersteigertem Selbstbewusstsein. Auch er wollte im Alleingang nichts Geringeres als eine Revolution seines Berufes. Selbst der ihm wohlgesonnene Biograf Robert Jütte kann die Schattenseiten dieses Charakters nicht verschweigen: Hahnemann war gelehrt und fleißig, aber auch eigensinnig, streitlustig und rechthaberisch.

Hahnemann wirkte in einer Zeit, in der die Ursachen der meisten Krankheiten – so etwa Bakterien und Viren – noch gar nicht bekannt waren. Das hinderte ihn nicht, unumstößlich zu verkünden: „Die rein homöopathische Heilungs-Art ist der einzig richtige, der einzig gerade, der einzig durch Menschenkunst mögliche Heilweg, so gewiß zwischen zwei gegebenen Punkten nur eine einzige gerade Linie zu ziehen möglich ist.“ Ein gewöhnlicher Scharlatan war Hahnemann jedoch nicht. Er glaubte an seine Lehre und verlangte diesen Glauben auch von seinen Patienten. Bezahlen ließ er sich aber im Voraus. Seine harsche Kritik an der damals herrschenden Medizin war durchaus berechtigt. Die Ärzte seiner Zeit quälten ihre Patienten mit Aderlässen, Brechmitteln und Senfpflastern. Verglichen mit solchem sadistischen Unfug war die Homöopathie tatsächlich weniger schädlich.

Ähnliches zum Heilen

Aber heilte sie auch? Hahnemann glaubte, in dem aus der Antike überlieferten Prinzip „similia similibus curentur“ das „einzig naturgemäße Heilgesetz“ gefunden zu haben: Heile durch Ähnliches! Er meinte dies ganz wörtlich: Bei Verbrennungen etwa halte man die Hand keinesfalls unter kaltes Wasser, sondern in die Nähe eines Ofens. Eine Krankheit heile man, indem man dem Patienten ein Arzneimittel verabreiche, das ähnliche Symptome hervorrufe wie die Krankheit selbst. Zuvor müsse der Wirkstoff allerdings „durch Reiben und Schütteln potenziert“ und bis zur „erdenklich kleinsten Gabe“ verdünnt werden. Die logischen Mängel dieser Lehre wurden schon von Zeitgenossen kritisiert: Wieso sollte die zufällige Ähnlichkeit von Symptomen die Ursache einer Krankheit beseitigen? Wie soll ein Stoff heilende Wirkung entfalten, der so weit verdünnt wurde, dass er einem Tropfen im Atlantischen Ozean entspricht?

Obwohl Hahnemann im Geist der Aufklärung seine Lehre durch Experimente zu untermauern suchte, war er doch noch ein Kind des vormodernen, magischen Denkens. Nur wer an einen von höherer Vernunft durchwalteten Kosmos glaubt, kann auf die Idee kommen, eine einzige Methode könne unterschiedlichste Krankheiten heilen.

Tatsächlich hielt Hahnemann seine Lehre für eine Offenbarung Gottes. Und noch heute schenken religiöse Menschen der Homöopathie eher Glauben als Atheisten, Westdeutsche öfter als Ostdeutsche.

Hahnemanns vielfach widerlegte Lehre überlebte – vorsichtshalber zurückgestuft zur „Komplementärmedizin“ – bis heute, obwohl sich die Medizin längst in eine echte Wissenschaft verwandelt hat. Denn die Homöopathie ist eine Antwort auf das Unbehagen in der Zivilisation. Menschen sehnen sich danach, als Person anerkannt zu werden, die moderne Medizin behandelt sie aber oft nur als „Fall“.

Die Homöopathie verspricht hingegen nicht nur individuelle, sondern auch „natürliche“ Heilung. Gerade unter den traditionell zivilisationsskeptischen Wählern der Grünen finden sich viele Anhänger der Homöopathie. Diese Altgrünen sehen sich inzwischen aber der Kritik von jüngeren Parteimitgliedern ausgesetzt, die mit Ökoesoterik im Stil der achtziger Jahre nichts mehr anfangen können. Der Streit um die Homöopathie musste auf dem vergangenen Parteitag in einen Arbeitskreis abgeschoben werden, um einen offenen Schlagabtausch zu vermeiden.

Ausgefeilte Pseudowissenschaft

Umfragen zeigen, dass Menschen mit höherem Bildungsabschluss der Homöopathie häufiger ergeben sind als einfache Leute. Das überrascht nur auf den ersten Blick. Die Homöopathie ist erfolgreich, auch weil sie als ausgefeilte Pseudowissenschaft auftritt, deren Formeln und Fachbegriffe Seriosität vorgaukeln. Was ein Maurer auf den ersten Blick als Blödsinn erkennt, kann einem Arzt nach jahrelangem Studium als höhere Weisheit erscheinen.

Die Geschichte der Homöopathie zeigt, dass es oft nicht die Wahrheit ist, die über den Erfolg einer Idee entscheidet, sondern das Bedürfnis nach ihr. Und der Wunsch nach einer Wiederverzauberung der Welt ist umso größer, je kälter die Zivilisation funktioniert.

Man könnte über die Homöopathie als harmlosen Hokuspokus lächeln, gäbe es nicht regelmäßig Berichte über Kinder, die der Glaube ihrer Eltern an „Alternativmedizin“ das Leben kostet. Solche Eiferer könnte diese Nachricht verwirren: Der sächsische Schöpfer der Homöopathie war zugleich ein Befürworter des Impfens.