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Wie Jens mit 44 Jahren lesen lernte

Der Dresdner schummelte sich jahrelang durch, damit nicht aufflog, dass er Analphabet ist.

Von Julia Vollmer
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Jens ist stolz, dass er jetzt eines seiner Lieblingsbücher lesen kann. 44 Jahre war er Analphabet. Im abcd hat er lesen gelernt.
Jens ist stolz, dass er jetzt eines seiner Lieblingsbücher lesen kann. 44 Jahre war er Analphabet. Im abcd hat er lesen gelernt. © Marion Doering

Dresden. Über die Jahre entwickelte er einfache Tricks, um zu verbergen, was niemand wissen sollte. 

Jens kann nicht lesen und schreiben. Sollte er Formulare beim Arzt oder den Behörden ausfüllen, redete er sich damit heraus, seine Brille vergessen zu haben. Auch einer seiner Tricks: Er band sich einen Verband um die Hand und täuschte eine Verstauchung vor. Im Supermarkt kaufte er manchmal einfach die Produkte, ohne zu wissen, was es genau ist. Gefragt, ob ihm jemand beim Lesen helfen kann, hat er nie. Die Scham war einfach zu groß.

Doch irgendwann reifte in seinem Kopf der Entschluss: Ich will mich nicht mehr verstecken. Ich möchte Bücher lesen und Briefe schreiben können. Er meldete sich mit 44 Jahren für einen Alphabetisierungskurs beim Verein abcd an. Durch seine jetzige Betreuerin wurde er auf den Verein aufmerksam. „Ich musste bei null anfangen, die Buchstaben konnte ich zwar größtenteils erkennen, aber sie zu Worten zusammenzusetzen fiel mir schwer“, erzählt der Dresdner, der seinen Nachnamen für sich behalten möchte. 

Am Anfang war es sehr mühsam. Doch mit viel Geduld und Mühe übten die Teilnehmer dem Grundschulmodell ähnlich jede Woche einen neuen Buchstaben und fügten sie dann zu Worten zusammen. Das Lesen fällt ihm leichter als das Schreiben. Aus M und A lässt sich Mama zusammenbauen, kommt das P dazu, lässt sich Papa schreiben und lesen. 

Lange Jahre für den Verein abcd, der Analphabeten Lesen und Schreiben beibringt, hat Annett Lungershausen gearbeitet. „Die Betroffenen leiden sehr unter den Vorurteilen, dass Analphabetismus etwas mit geistiger Behinderung zu tun hat, doch das stimmt nicht“, sagt sie. Sie müssten es einfach nur lernen. „Die Methoden ähneln zwar denen in der Grundschule, aber die Bücher sind für Erwachsene, nur in einfacherer Sprache“, so Lungershausen. Auch Über-60-Jährigen brachte sie so das Lesen noch bei.

200.000 Menschen in Sachsen betroffen

„Früher habe ich mich oft verfahren, weil ich die Hinweisschilder in der Stadt oder auf der Autobahn nicht lesen konnte, heute bin ich meistens pünktlich“, erzählt Jens. Zug oder Bahn ist er, als er noch nicht lesen konnte, nie gefahren. Denn wohin die Bahn fuhr, das konnt er bisher nur erahnen. „Umso schöner ist das Gefühl, jetzt Fahrpläne und Anzeigetafeln entziffern zu können“, erzählt er. 

Der Frage, warum er als Erwachsener nicht lesen und schreiben kann, ist er früher immer ausgewichen. Auch jetzt spricht er nur sehr ungern darüber. „Die Schule hat mir einfach keinen Spaß gemacht, schnell war alles andere wichtiger“, sagt er. Niemand habe sich darum gekümmert, dass er als kleiner Junge lesen und schreiben lernte. „Ich habe in meiner Kindheit einfach immer nur Blödsinn gemacht, statt zu lernen“, sagt er heute. Sein ganzes Leben schlug er sich mit Gelegenheitsjobs durch.

7,5 Millionen Erwachsene in Deutschland können so schlecht lesen und schreiben, dass sie kaum schriftlich kommunizieren können. In Sachsen sind nach Schätzungen des Kultusministeriums über 200.000 Menschen betroffen. Für Dresden gibt es keine Schätzungen. Ohne Hilfe können sie weder ein Formular lesen noch eine Mail schreiben. 

Um den Betroffenen zu helfen, gibt es seit Jahren spezielle Alphabetisierungskurse für Erwachsene. Auch in Sachsen. Die Koordinierungsstelle Alphabetisierung koalpha arbeitet seit 2010 mit Büros in Chemnitz, Dresden, Leipzig und Plauen. Jens macht unterdessen immer weiter Fortschritte. Jede Buchseite, die er liest, macht ihn unglaublich stolz.