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Wildwest in der Oberlausitz

In kaum einem anderen Ort wird so viel geklaut wie in Ostritz an der Grenze zu Polen. Oft sind die Diebe längst weg, wenn die Polizei eintrifft. Die Ostritzer haben Angst. Einige haben eine Bürgerwehr gegründet.

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© Ronald Bonß

Von Christoph Farkas

Klaus-Peter Jerga geht in die Küche und setzt Kaffee auf, halb sechs, wie jeden Morgen. Er wischt sich die Nacht aus den Augen, zieht die Rollos hoch. Und erstarrt. Zwei Männer in Jogginghosen schauen ihn an. Sie stehen, mit Tüchern maskiert, vor seiner aufgebrochenen Garage, schwarze Mörtelwannen neben sich, randvoll mit Werkzeug, seinem Werkzeug. Er stürmt raus, setzt den Dieben hinterher, quer durch den Garten, runter Richtung Neiße. Als er das Gartentor erreicht und ihnen nachsieht, hört er seine Frau von oben schreien. Ein dritter Dieb hat sich in der Garage versteckt. Doch auch den erwischt Jerga nicht mehr. Der Einbrecher springt wie ein Wahnsinniger durch die Scheinzypressenhecke. Die Mörtelwannen haben die Diebe stehen lassen, eine Bohrmaschine und drei Kettensägen mitgenommen. Als die Polizei eintrifft, kann sie nur noch Jergas Aussage aufnehmen. Das war Anfang Juni.

Klaus-Peter Jerga wohnt im Ostritzer Stadtteil Leuba. Er beobachtet auf dem Monitor im Schlafzimmer die Bilder der Kameras, die er rings ums Haus postiert hat. Bei ihm wurde in diesem Jahr schon mehrfach eingebrochen.
Klaus-Peter Jerga wohnt im Ostritzer Stadtteil Leuba. Er beobachtet auf dem Monitor im Schlafzimmer die Bilder der Kameras, die er rings ums Haus postiert hat. Bei ihm wurde in diesem Jahr schon mehrfach eingebrochen. © Ronald Bonß

Klaus-Peter Jerga wohnt in Leuba, einem Ortsteil von Ostritz. Ein stolzer Ort an der Neiße, knapp 20 Kilometer südlich von Görlitz. Mit einem alten Kloster, tausendjähriger Geschichte und knapp 2 500 Einwohnern. Es gibt Fachwerkhäuser und einen Marktplatz, der jeder Kleinstadt gut stünde. Zwar ist fast jede dritte Wohnung leer, doch es gibt noch eine Bibliothek, einen Supermarkt, ein Antiquariat. Die Angst, von der Klaus-Peter Jerga und viele andere Bewohner erzählen, will nicht recht hierher passen. Die Angst vor den Dieben.

Fast jeder Ostritzer kann von aufgebrochenen Gartenlauben erzählen, von leer geräumten Garagen und Fahrradschuppen. Davon, dass es nichts gibt, was noch nicht geklaut worden wäre: Oldtimer, Schweißgeräte, Badehosen. Ein Jetski, Pools, Rasenmäher. Die Diebe, sagen die Ostritzer, kommen vor allem von der anderen Seite der Neiße, aus Polen. Sie stehlen das ganze Jahr über, nachts und am Tage. Im Schnitt wird alle zwei Tage irgendwo eingebrochen. Die Ostritzer fühlen sich im Stich gelassen von Polizei und Politik.

Wie lässt es sich leben mit der Angst, bestohlen zu werden? Die Bewohner arrangieren sich irgendwie mit der Situation. Einige haben resigniert und verschanzen sich in ihren Häusern, manche glauben an die Polizei, andere greifen zu Knüppeln und Kabelbindern, haben eine Bürgerwehr gegründet.

Heute sitzt Klaus-Peter Jerga auf der Veranda hinter seinem Haus. Jerga, der von sich sagt, er sei ein Macher, weiß nicht mehr, was er machen soll. Fünf Kameras hat er rings um sein Haus angebracht, geklaut wird weiter. Der Einbruch im Juni war der fünfte in diesem Jahr. Jerga hat die Aufnahmen seiner Kameras ans Fernsehen gegeben, es gab sogar einen Bericht im ZDF. Doch die kurze Aufmerksamkeit ist kein Trost für ihn. „Ich halte das nicht mehr aus, diese Arroganz der Macht. Wir werden völlig ignoriert“, sagt Jerga.

Im Januar hat der Görlitzer Polizeipräsident mehr Einsatzkräfte versprochen. Davon sei aber heute überhaupt nichts zu spüren, meint Jerga. Eher sei es schlimmer geworden. Die Statistik scheint ihm recht zu geben: Im ersten Halbjahr 2015 gab es 114 Eigentumsdelikte in Ostritz, im gleichen Zeitraum des Vorjahrs nur 46. Der kräftige Mann hat Angst. Angst um seinen Besitz. Angst vor Angriffen der Diebe, wenn er sie ertappt. Angst, dass sie bald in seinem Wohnzimmer stehen könnten, in seine Privatsphäre eindringen. Bisher räumten die Diebe fast ausschließlich Garagen, Lauben und Schuppen aus.

Um schlafen zu können, hat Klaus-Peter Jerga im Schlafzimmer einen Bildschirm, auf dem die Kamerabilder von seiner Terrasse die ganze Nacht laufen. Das gibt ihm das Gefühl, ein bisschen Kontrolle zu haben. Genau wie sein Kreuzhackenstiel, der wie ein Baseballschläger aussieht. Jerga hat Stacheldraht durch die Hecken im Garten gezogen, hat Scheinwerfer mit Bewegungsmeldern bestellt, überlegt, eine Selbstschussanlage zu kaufen. Es sind Verzweiflungskäufe, denn die Hoffnung, dass sich was bessert, hat Jerga aufgegeben. Nur seinen Humor noch nicht. „Vielleicht kann uns Minister Ulbig ja einen Personenschützer abgeben, der hier aufpasst“, sagt er.

Wenn man als Besucher durch Ostritz schlendert, ist die Verunsicherung der Menschen zu spüren. Sie blicken argwöhnisch, fragen beim Vorübergehen harsch, was man hier suche. Viele sind Fremden gegenüber paranoid geworden. Denn Diebe kommen schon tagsüber nach Ostritz, um zu schauen, wo sie nachts gut einsteigen können. Mittlerweile scheint sich jeder Gedanke und jedes Gespräch um die Diebe zu drehen, die aktuell geklauten Benzinkanister oder Einräder. Wertvolle Sachen bewahren die Ostritzer nun ohnehin im Haus auf, Türen und Fenster schließen sie, selbst wenn sie nur mal kurz zum Penny gehen.

Thomas Göttsberger blinzelt in die Abendsonne, die sich über den Marktplatz senkt. Seit 2009 sitzt er im Stadtrat. Schon lange fordert der gebürtige Bayer mehr Polizei im Ort. Ohne Erfolg, wie er sagt: „Bei der Polizei herrscht hier das Prinzip Hoffnung. Die Hoffnung darauf, dass nichts passiert.“ Die Direktion in Görlitz sei vollkommen unterbesetzt für ein so weitläufiges Einsatzgebiet. Wenn neue Polizisten versprochen würden, seien diese allenfalls Lückenfüller für aus dem Dienst scheidende oder kranke Kollegen.

Auch die Ortskenntnis sei ein Problem: Manche Bereitschaftspolizisten kennen sich schlicht nicht aus in Ostritz, sagt Göttsberger. Ende 2014 habe ein Bürger den nach einem Einbruch eintreffenden Polizisten zugerufen, die Diebe seien zur Neiße geflohen. Die Polizisten stürzten los – in die entgegengesetzte Richtung.

Weil es an beidem fehle, an Personal und an Ortskenntnis, sei Ostritz zum „Selbstbedienungsladen“ geworden. Zur beinah rechtsfreien Zone.

Conny Stiehl, Polizeipräsident der Direktion Görlitz, widerspricht der Kritik entschieden. Ja, in Ostritz gebe es die meisten schweren Diebstähle pro Kopf im Einsatzgebiet. Auch die Unsicherheit sei zu verstehen. Keinesfalls aber würden die Ostritzer vernachlässigt. Im Gegenteil: In keiner Gemeinde der Region sei der Aufwand so hoch, gemessen an der Einwohnerzahl. Personell sei die Polizei in der Lage, der Kriminalität wirkungsvoll entgegenzutreten. Die neuen Kollegen seien keine Lückenfüller, sondern motivierte, junge Polizisten, die aus der Region kommen. Man arbeite intensiv mit der Bundespolizei, dem Zoll und polnischen Kollegen zusammen.

Um Diebstähle zu verhindern, brauche die Polizei aber vor allem eines, sagt Stiehl: „Es geht nur zusammen mit den Bürgern.“ Er findet es schade, wenn sie sich zurückziehen. Wenn die Polizei zum Blitzableiter ihrer Frustration wird. Immerhin gab es jüngst Fahndungserfolge, ein Hehlerlager in Bogatynia wurde ausgehoben. Doch die verunsicherten Bürger würden oft nur negative Neuigkeiten wahrnehmen.

Mehrmals jährlich fährt ein Infomobil der Polizei nach Ostritz. Die Bürger können sich beraten lassen, wie sie sich vor Dieben schützen können. Bei den letzten Terminen kamen 17, 20 und 15 Besucher. Stiehl sagt, man werde den Ostritzern den Dialog nicht aufzwingen, nur weiterhin anbieten.

Dirk Neumann sind die Versprechen von mehr Personal und Dialog nicht mehr genug. Vor drei Jahren hat er mit Freunden eine Bürgerwehr gegründet. Neumann und seine Mitstreiter stehen Nacht für Nacht an der Neißebrücke. Die schmale Holzbrücke unterhalb der Ostritzer Altstadt ist ein Hauptweg polnischer Diebe, da die Umgebung kaum beleuchtet ist. Jetzt im Sommer, wenn die Neiße kaum kniehoch ist, kommen die Diebe oft durch den Fluss.

Wenn die Dunkelheit einbricht, patrouilliert die Bürgerwehr auch durch den Ort, legt sich auf dem alten Armeegelände in der Bahnhofsstraße oder gegenüber im Hotel „Neißeblick“ auf die Lauer. Wenn Neumann jemanden erblickt, verständigt er die Polizei und nimmt die Verfolgung auf. Da es bis zu einer Stunde dauern könne, bis Beamte eintreffen, nimmt Neumann die Diebe manchmal selbst fest. Er hat immer Kabelbinder, Knüppel und Quarzhandschuhe dabei. „Damit kann ich schon mal eine verteilen“, sagt er.

Der Polizei schmeckt es natürlich nicht, wenn Bürger ihr Gewaltmonopol übernehmen. Polizeipräsident Conny Stiehl: „Vom Losziehen in Wildwest-Manier halte ich gar nichts.“ Er findet es gut, wenn Bürger die Polizei bei einem Einbruch oder im Verdachtsfall benachrichtigen und Diebe in sicherem Abstand verfolgen. Ihm gefällt es aber nicht, wenn Bürger sich in Gefahr begeben und versuchen, die Diebe selbst festzusetzen.

Auch die Ostritzer sind gespalten, was sie von ihrer Bürgerwehr halten sollen. Manche sehen in Neumann und seinen Mitstreitern „rechte Experten“. Andere meinen, „die tun wenigstens was“. Tatsächlich hat die Bürgerwehr schon einige Diebe schnappen können.

Heute Nacht wird Dirk Neumann nicht lange auf der Brücke stehen; er muss morgen um vier Uhr zur Frühschicht in einem Maschinenbau-Unternehmen. Neumann ist 37 und Familienvater. Die Bürgerwehr, die sich manche als Schlägertrupp vorstellen, besteht heute aus seiner Frau, seinen zwei Söhnen, seinen Hunden Max und Maja sowie Hartmut Ehrentraut, dem Besitzer des Hotels „Neißeblick“. Dort fand 2012 der NPD-Parteitag statt. Viele Ostritzer haben das Ehrentraut übel genommen. Er habe das damals nach dem Hochwasser aber nur wegen des Geldes gemacht, sagt der Mann mit den Schlappen.

Wie im Ort ist es auch hier auf der Brücke Konsens, dass man kein Problem mit den Polen habe, nur mit den Dieben. Die Polizei meint, man könne nicht sagen, wie viele Polen unter den Dieben sind, die Ostritzer sagen, es seien mindestens zwei Drittel. Trotzdem beteuern alle im Ort, sie hätten tolle polnische Kollegen und Freunde – die auf der anderen Neißeseite die gleichen Sorgen mit Dieben hätten.

Die kleine Bürgerwehr steht auf der Brücke unter dem Sternenhimmel, raucht und wartet, leuchtet mit einer Taschenlampe auf das dunkle polnische Ufer.

Um 21.33 Uhr fährt dort im Schritttempo ein Auto vor. Ein kastiges, ein Seat vielleicht. Drei Mann sitzen drin. „Sie sehen nach, ob wir heute Nacht auf der Brücke stehen“, raunt Neumann. Unheimliche Sekunden. Die Hunde kläffen. Maja kann Polen riechen, sagt Neumanns Frau ernst. Das Auto fährt langsam weiter. Dann bleibt es ruhig. Es raschelt mal im Gebüsch – ein Dieb?, ein Dachs? –, doch es ist nichts zu sehen. Die Gruppe scheint enttäuscht zu sein, nur Neumanns Frau erleichtert.

Natürlich sei die Bürgerwehr auch Nervenkitzel, Adrenalin. „Andere gehen Bergsteigen, wir machen das hier“, sagt der 16-jährige Sohn, und Dirk Neumann nickt. Es ist die Nacht, in der Klaus-Peter Jerga einmal mehr darüber nachdenkt, alles zusammenzupacken und wegzuziehen. Doch wer wollte sein Haus übernehmen?