Von Carina Brestrich
Das Diktiergerät liegt zu Hause im Schrank. Noch kein einziges Mal hat sich Maria-Anna Klix hingesetzt und es zur Hand genommen. Dabei hatten es ihre Kinder ihr extra geschenkt. Denn Schreiben, das will die rüstige Dame aus Neusalza-Spremberg nicht mehr. Die Hand mache mittlerweile nicht mehr so lange mit, erzählt sie. Die Stimme aber sehr wohl. Doch ihre Lebensgeschichte auf einem Magnetband für die Ewigkeit festzuhalten, davor sträubt sie sich noch. Schließlich hätte Maria-Anna Klix viel zu erzählen: Von einer unbeschwerten Kindheit, von Vertreibung, von Durst und Hunger, von der beispiellosen Geschichte ihrer verlorenen Heimat Fugau. Von dem einst böhmischen Ort, von dem heute nur noch der Friedhof da ist.

Aber auch an diesem Tag spricht Maria-Anna Klix nicht mit dem Diktiergerät, sondern mit ihren beiden Schulfreundinnen. Maria-Anna Klix sitzt mit ihnen auf einer der Bierbänke auf dem Friedhof ihres Heimatdorfes, das auf Tschechisch Fukov heißt. Bis gerade eben waren die Reihen noch voll. Etwa 140 Tschechen und Deutsche waren zum Freiluftgottesdienst zur Einweihung des Friedhofs gekommen. Dahin, wo bis vor einigen Wochen noch dichtes Gestrüpp und Gesteinstrümmer den Weg versperrten.
Dank der Zusammenarbeit von Deutschen und Tschechen ist der Friedhof auf der schmalen Landzunge zwischen Taubenheim, Oppach und Neusalza-Spremberg jetzt aber wieder begehbar: Die Stadt Šluknov ließ das Gelände von Unkraut befreien, die Fläche begradigen, einen Weg anlegen und 26 Linden pflanzen. Nur Schatten spenden die jungen Bäume in der sengenden Hitze dieses Tages noch nicht.
Am 14. Juli 1945 sei es genauso heiß gewesen. Maria-Anna Klix erinnert sich an den Tag, ab dem das Unrecht an den Fugauern seinen Lauf nahm. Die schwarze Handtasche auf den Schoß gedrückt, beginnt sie zu erzählen. Immer wieder tupft sie zwischendurch mit einem Stofftaschentuch den Schweiß weg unter den weißen Locken, die ins Gesicht fallen. „Gegen vier Uhr kamen die Tschechen und zwangen uns, unser Haus zu verlassen“, erzählt sie. Mit nur wenigen Habseligkeiten ging es vom Ortsteil Plimpendörfel durch den Wald nach Schluckenau (Šluknov). Auf dem Bahnhof wurde die Familie wie zahlreiche andere auf Viehwaggons verfrachtet – „Männer, Frauen, alte Leute, Kinder“, beschreibt Maria-Anna Klix. Über Sebnitz fuhr der Zug nach Dresden. „Wir hatten alle so einen Durst. Es gab nichts zu trinken, wir durften ja nichts mitnehmen“, erzählt sie. In Dresden wurde schließlich umverteilt: Wer Verwandtschaft in der Stadt hatte, durfte raus. Der Rest sollte nach Mecklenburg-Vorpommern kommen. „Wir stiegen aus und sind einfach nur gelaufen. Wir dachten, wir könnten wieder nach Hause.“
Die Hoffnung erfüllte sich nicht für die mehr als 650 deutschstämmigen Fugauer, die bis 1946 aus dem Dorf an der Spree deportiert wurden, bevor schließlich die Häuser samt Schule und Kirche dem Erdboden gleich gemacht wurden. Noch schätzungsweise 100 von ihnen leben heute in Deutschland und auf der ganzen Welt verstreut, davon etwa 40 in den Gemeinden um den Fugauer Zipfel.
Auch Susanne Lukesch aus Neusalza-Spremberg zählt zu den rund 25 Fugauern, die in der gleißenden Sonne auf den Bänken Platz genommen haben. Mit Maria-Anna Klix ist sie zur Schule gegangen – „und nachmittags haben wir zusammen gespielt“, erzählt sie. Manchmal träume sie heute noch von den unbeschwerten Tagen. Aber auch von den schlechten. Als sie in Mecklenburg als Zigeuner beschimpft wurde, als sie sich auf dem Dachboden verstecken musste vor dem tschechischen Kontrollbeamten, dessen gebrochenes Deutsch sie beim Erzählen imitiert. „Wir könnten wohl alle ein Buch schreiben“, sagt sie. Oder auf ein Diktiergerät sprechen.
Aber nicht an einem Tag wie diesem. Für Maria-Anna Klix und ihre Freundinnen auf der Bierbank ist es keiner zum Traurigsein. „Manchmal, ja, da weint man wie früher“, sagt Maria-Anna Klix und fügt gleich dazu, „aber der Schmerz ist mit der Zeit abgeklungen.“ Die Frauen haben ihn miteinander geteilt. Schon lange treffen sie sich alle paar Wochen zum Kaffee. Dann erinnern sie sich gern gemeinsam an ihr Dorf, das sie nur mit ihren Kinderaugen kennen: Die vielen Umgebindehäuser, die Kneipen, in denen immer etwas los war, die plätschernde Spree. Sogar an den Fugauer Friedhof, auf dem etwa Susanne Lukeschs Großvater beerdigt wurde. „Dass sich hier jemand vergnügt, das hätten wir nicht gewollt“, sagt Maria-Anna Klix und meint die einstigen Pläne eines Investors, im Fugauer Zipfel einen Ferienpark zu errichten.
Der Friedhof ist inzwischen leer. Ein Tscheche klappt die Bierbänke zusammen. Die Frauen wollen gerade in die nächste Kneipe, unweit der Grenze, aufbrechen. Da stößt Monika Tesar dazu, eine weitere Schulfreundin: „Ich war jetzt daheim“, witzelt die kleine Frau und macht eine kurze Sprechpause, „aber das Haus war nicht mehr da.“ Die Frauen lachen. Das Diktiergerät, es liegt zu Hause im Schrank.