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Die Erinnerung wach halten

Der Ex-Kreisdezernent Günter Kern aus Kamenz schreibt sein Leben auf. Er macht dies nicht zum Selbstzweck.

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© René Plaul

Frank Oehl

Die Sächsische Zeitung hat Auszüge aus den Lebenserinnerungen des Kamenzers Günter Kern veröffentlicht. Dabei ging es weniger um privatpersönliche oder familiäre Erlebnisse des Baselitz-Bruders – die durchaus auch von öffentlichen Interesse wären – sondern um politische Erlebnisse und Erfahrungen vor und nach der friedlichen Revolution vor 25 Jahren, die der Serie auch Namen und Rahmen gaben. Zum Abschluss hat die SZ Günter Kern zu seinen Beweggründen befragt:

Herr Kern, was treibt Sie an, sich an den Schreibtisch zu setzen?

Wir müssen die Erinnerung wach halten und weiter geben, solange das möglich ist. Einerseits, was meine Familiengeschichte betrifft, die durch meinen Bruder Georg vor allem künstlerisch betrachtet wird und die ich – mit Ost-Biografie – manchmal anders interpretieren würde. Noch wichtiger war mir gerade jetzt, meine authentischen Erfahrungen mit dem DDR-Alltag, den Wendeereignissen und den durchaus auch mühsamen Anfängen einer erstmals demokratisch legitimierten Gesellschaft festzuhalten.

Da gibt es doch schon jede Menge Erfahrungsberichte, oder nicht?

Oft wird das Bild der Wende von jenen geprägt, die sie mit westlicher Brille betrachten. Das war vor 25 Jahren so und das gibt es immer noch. Deshalb schließe ich mich dem Wunsch des früheren CDU-Ministerpräsidenten von Sachsen-Anhalt Wolfgang Böhmer an, der in einem kürzlichen Zeit-Gespräch sagte: „Ich will wissen, was gelaufen ist.“ Das bezog sich auch auf die Stasi, aber eben nicht nur. Ich bin dafür, auch das klar anzusprechen, was nach der Wende schief gelaufen ist.

Gehört die Stasiaufarbeitung aber nicht an die erste Stelle?

Ja und nein. Natürlich ist es für mich auch heute noch eine nur schwer verständliche Tatsache, dass bisher kein einziger der „IM“, die sich über mich laut meiner Akten ausließen, mit mir das Gespräch über die Vergangenheit gesucht hat. Hier hätte – nicht nur in meinen Fall – die Basis für Erklärungen und am Ende auch für Verständnis oder gar Vergebung gelegt werden können. Gerade wir, die wir in der DDR gelebt haben, sollten mit diesem Thema verantwortungsvoller umgehen.

Als Täter und als Opfer?

Die Wahrheit ist so kompliziert, wie die Verhältnisse es waren. Ich zum Beispiel habe die DDR-Verhältnisse nie akzeptiert, mit meiner Meinung im Freundeskreis nie hinterm Berg gehalten und habe mich dennoch angepasst. Als Pädagoge in der Berufsausbildung in Kamenz war ich wie alle in die vormilitärische Ausbildung eingebunden, die ich als GST-Fahrlehrer absolvierte. Deshalb konnte man dennoch anständig bleiben. Ich halte es grundsätzlich für perfide, wenn Menschen hintenrum etwas über andere berichten. Aber es gab und gibt gewiss auch Zwänge und Nöte, die einen dazu bringen können. Darüber zu reden, ist eine Möglichkeit, den Täter-Opfer-Kreislauf zu überwinden.

Sie gehen in Ihren Memoiren auch hart mit den früheren DDR-Blockparteien ins Gericht. Warum?

Ich glaube, dass im doppelzüngigen Umgang mit dieser DDR-Erblast ein Grund für jene Demokratie-Verachtung liegt, die wir gerade jetzt erleben. Vor allem bei uns im Osten. Das Zeitfenster für die deutsche Einheit war nicht groß und die Wahl der ersten freigewählten Volkskammer am 18. März 1990 mag zu schnell gekommen sein, wie es jüngst auch Jens Reich von Bündnis 90/Die Grünen im SZ-Gespräch zu Recht beklagte. Die schlichte Übernahme der Blockparteistrukturen vor allem durch die Kohl-CDU aber war ein reines machtpolitisches Kalkül. Das haben wir neuen Sozialdemokraten auch im Wahlkampf in Kamenz schmerzlich zu spüren bekommen.

Inwiefern?

Ich erinnere mich an ein Wahlplakat zur Volkskammerwahl, das sogar in öffentlichen Verkehrsmitteln in Kamenz hing. Es zeigte die „DDR“ als sinkendes Schiff und „Ratten“, die es über ein Seil auf einen „SPD“-Dampfer verließen. Eine unglaubliche Verzerrung der Realität. Wir hatten bei der Neugründung der Sozialdemokratie im Hotel Stadt Dresden 500 Leute sitzen, von denen viele in der SED gewesen waren und nun auch aus ehrlicher Überzeugung in die SPD wollten. Wir haben sie ebenso aus ehrlicher Überzeugung im Regen stehen lassen, was politisch ein Fehler war. Wir wollten einen wirklichen Neuanfang, den ich anderen auch empfohlen hätte ...

Regina Schulz von den Linken hat Ihnen vorgeworfen, die vielen neuen Namen auf den Kandidatenlisten der 1990er Wahlen übersehen zu haben.

Natürlich habe ich sie gesehen. Viele Menschen – von links bis rechts – haben den ehrlichen Aufbruch in eine neue Zeit versucht, was ich hoch schätze. Es ging mir aber um meine persönliche Betroffenheit über Namen von der Liste der Nationalen Front, die wir 1989 durchgestrichen hatten und die nun wieder oben auf einer neuen Liste standen. Das bewegt mich heute noch. Wenn mir heute vor 25 Jahren jemand gesagt hätte, dass der Stellvertretende Vorsitzende des Rates des Kreises einmal sächsischer Ministerpräsident sein würde, hätte ich ihn für verrückt gehalten. Was nicht bedeutet, dass ich Stanislaw Tillichs persönliche Integrität heute infrage stelle. Sein Aufstieg aber hatte etwas mit der besonderen politischen Konstellation zu tun. Das gehört zu einer Wahrheit, der man sich stellen muss, oder etwa nicht?

Wie war die Resonanz auf die SZ-Serie im Freundes- und Bekanntenkreis?

Ich habe nur positives Feedback gehabt. Ehrlich gesagt, wäre mir sachlicher Widerspruch im persönlichen Gespräch durchaus recht gewesen. Ich freue mich über die Meinungen anderer. Das gehört dazu, wenn man Selbstwertgefühl entwickeln will. Das wurde uns zu DDR-Zeiten abgewöhnt. Die Erkenntnis, dass man nicht alles wissen kann, dass man sich viel mehr irrt, gehört für mich zu den Grundlagen eines Lebens in der Demokratie.