SZ +
Merken

Wo der Regen zum Fluss wird

Mit dem Pontekanal besitzt Görlitz eine beeindruckende Unterwelt. Fast zwei Kilometer sind aufrecht begehbar.

Teilen
Folgen
NEU!
© Pawel Sosnowski/80studio.net

Von Ralph Schermann

Görlitz. Nein, es gibt keinen Geheimgang zwischen Peterskirche und Landeskrone. Diese Sage ist Quatsch. Begehbare Görlitzer Unterwelten aber gibt es. Zum Beispiel Dienstkanäle zur Fernwärmekontrolle in Königshufen oder alte Posttunnel im Bahnhof. Und man kann sogar von der Neiße aus in einer Art Stollen unter den Nikolaigraben laufen und nahe der Kreuzkirche wieder ans Tageslicht kommen.

Genial einfach: Übereinander angebrachte kleine Metallpfännchen zeigen gefüllt bei der nächsten Begehung noch an, wie hoch zuletzt das Wasser im Kanal floss.
Genial einfach: Übereinander angebrachte kleine Metallpfännchen zeigen gefüllt bei der nächsten Begehung noch an, wie hoch zuletzt das Wasser im Kanal floss. © Pawel Sosnowski/80studio.net

Zugegeben, das ist beschwerlich. Etwa ab unter der Hilgerstraße müsste man auf Knien rutschen, denn ab dort folgen Röhren im Durchmesser von 1,20 Metern unter Tage dem Lauf von Landeskron-, Luther- und Fichtestraße. Von der Hilgerstraße bis zur Neiße aber kann man aufrecht gehen. Diese 1580 Meter heißen Pontekanal, etwa 4,50 Meter tief, auf Höhe von Nikolaiturm und Pontestraße mal bis 6,50 Meter. Hier fließt der größte Teil des Görlitzer Regen-, Quell- und Drainagewassers. Bei Starkregen können bis 40000 Liter Wasser durchschießen – je Sekunde. Selbst bei Trockenheit plätschert mindestens der alte Pontebach stetig ein paar Zentimeter hoch durch den Kunstbau. Gummistiefel sind Pflicht.

Ab und an gestatten die Stadtwerke Einblicke in diesen Kanal. Zwar dürfen Besucher nur auf eine Plattform unter dem Eingang Hugo-Keller-Straße, erfahren aber auch dabei viel über den Verlauf des Gewässers vom Ursprung am Flugplatz über den einstigen Ponteteich im heutigen Waggonbau und die Christoph-Lüders-Straße bis ins ehemalige Gaswerk Lunitz, wo die Ponte sich mit dem Bach Kidron vereinigt. 1856 bis 1861 wurde der erst offene Nikolaigraben abgedeckt. Die mächtigen Wölbungen erhielten bei Erweiterungen von 1901 bis 1903 und 1912 bis 1913 ihre Gestalt. Wenig später schon wurden die damals für Havarien vorgesehenen Umlenkklappen der Abwasserleitungen zugemauert, die im Notfall Schmutzwasser mit in die Neiße geleitet hätten. Längst gibt es in Görlitz auch so gut wie keine Klärgruben mehr, die noch zu DDR-Zeiten in Biesnitz illegal in Regenkanäle überschwappten. Es dringt auch kein nennenswerter Abfall durch die über 5 000 Görlitzer Gullys. „Das zeigt, wie regelmäßig deren Fangkörbe gereinigt werden“, sagt Michael Brand.

Wasser-Angebote

Die Stadtwerke Görlitz entsorgen Abwasser über 347 Kilometer Kanäle. Davon sind 178 km allein dem Regenwasser vorbehalten. Dazu kommen fünf Regenwasserüberlauf- und -rückhaltebecken.

Das Kanalsystem für Abwasser entstand ab 1909 in Görlitz. Die Stadtväter achteten damals bereits vorausschauend auf getrennte Regenwasserableitungen.

Ein Tag des Wassers wird bundesweit wieder am 22. März begangen. Die Stadtwerke Görlitz sind dabei und laden zum Thema Trink-, Regen- und Abwasser ein:

Wasserwerk Weinhübel (Wasserwerk 7a) und Kläranlage (Rothenburger Straße 33) ermöglichen Führungen je um 10 und um 16 Uhr. Dazu gibt es bei einem Quiz Preise zu gewinnen. Von 10 bis 11 sowie von 16 bis 17 Uhr sind Einblicke möglich in den Pontekanal (Zugang über den Hotel-Parkplatz Ecke Bog-/Hugo-Keller-Straße).

1 / 4

Der Referent für Netztechnik der Görlitzer Stadtwerke kontrolliert regelmäßig die Regen- und Schmutzwasserführungen. Bei der Begehung vorige Woche begleitet ihn die SZ. Außer drei Zigarettenkippen spült dabei tatsächlich nur klares Wasser um die Gummistiefel. Auch alle Zuleitungen enden dort, nur einmal schießt ein kräftiger Schwall seitlich aus der Wand. „Vorsicht!“, ruft Michael Brand, der dieses Nass mit geübtem Ohr rechtzeitig heranrauschen hört: „Das ist das Jüdische Bad auf der Nikolaistraße. Sich dort ansammelndes Quellwasser wird regelmäßig abgelassen.“

Die Stiefel finden nicht überall Halt, weil sich ein biologischer Film über den Boden zieht. Diese permanente Rutschgefahr wird verstärkt durch schlecht verteiltes Gepäck: Allein der wuchtige „Selbstretter“, ein spezielles Sicherungsgerät, wiegt wenigstens seine zwei Kilogramm, ein Messgerät überwacht die Luft, der Helm muss ordentlich sitzen, und ohne Lampen geht gar nichts. Wer in dem stockdunklen Gemäuer aber den Lichtkegel schweifen lässt, ist nicht nur von der schon Hundert Jahre haltenden baulichen Präzision beeindruckt, sondern auch davon, wie weitsichtig unsere Stadtväter einst planten. Neben dem Hauptmaterial Klinker sind Betonteile und Natursteinsockel zu sehen. Zwischen Neiße und Hilgerstraße waten Kontrolleur und Reporter durch Gewölbe von 3,50 Metern Breite und 2,50 Metern Höhe. Vom Einstieg bis zur Neiße sind rund 500 Meter zurückzulegen, geht es vorbei an fünf Seitenkanälen. Dann endlich fließt am Ende des Tunnels die Neiße vorbei. Sie drückt leicht in den Kanal hinein, rund 15 Meter vor der Stollenöffnung erreicht das Wasser der Ponte die Gummistiefelgrenze. „Und da hat es seit Tagen nicht geregnet“, betont Michael Brand. Deshalb wird bei Regen auch nicht kontrolliert. Weniger die Wasserhöhe, sondern die Fließgeschwindigkeit wäre dann zu gefährlich. Immerhin begegnen uns auf den letzten Kanalmetern erste Neiße-Bewohner: kleine Fische. Sonst findet sich hier nichts. Seit 1881 im Pontekanal über tausend Sachsenpfennige aus der Zeit um 1100 auftauchten, wurde nie wieder etwas von Wert entdeckt.

Rund 40 Meter gen Görlitz macht der Pontekanal einen Absatz. Das abrupte, akkurat gemauerte Gefälle sieht wie ein Wehr aus. „Das ist Hochwasserschutz“, erklärt der Stadtwerker. Steigt der Neiße-Spiegel an, kommt das Wasser normalerweise nicht über den Absatz. Damit kann Regenwasser aus Görlitz weiter abfließen. Nur, als 2010 der Witka-Staudamm brach, waren auch im Pontekanal die Folgen zu spüren – und sind es bis heute: „Damals wurden große Sandmengen mit angespült, dadurch wurde die Neiße höher und müsste mal wieder ausgebaggert werden“, sagt Michael Brand. Früher jedenfalls konnte man bei Niedrigwasser problemlos bis ans Kanalende. In den 1990ern bekamen das auch jene mit, die auf diese Weise Grenzkontrollen umgingen. Sie nutzten den Pontekanal, um über Schachtdeckel in Görlitz anzukommen. Deshalb kontrollierte damals auch der Bundesgrenzschutz den großen Kanal. In die kleineren verirrt sich keiner. Dennoch, wer es unbedingt wöllte, käme auf Knien auch durch weitere Kanäle. Der nächste neben der Ponte beginnt an der Altstadtbrücke und endet unter der Brüderstraße. Die Röhre hat einen Durchmesser von 1,20 Metern und gehört zu jenen, für deren Kontrolle die Stadtwerke auf Technik setzen. „Dort fahren wir mit Kameras durch und sehen am Bildschirm jede Schadstelle“, sagt Michael Brand. Bisher sah er nur wenige – das Kanalsystem ist insgesamt wohl für die Ewigkeit gebaut.