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Zerbrechliche Kunst

Glasmalerei. Durcheinen Schüler-Beitrag zur Stadtgeschichte werdenhistorische Bleiglasfensterwieder entdeckt.

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Von Brigitte Pfüller

Wenn die Familie des Chemnitzer Bleiglaser-Meisters Rainer Unger ihren Schrank im Flur öffnet oder ins Bad geht, dann wird nicht mit den Türen geknallt. Denn die sind mit historischen Bleiverglasungen geschmückt. Die rechteckigen Scheiben zeigen in Wappenform Blumen, Tiere, Weintrauben, Ananas, Harfe und Weinglas. „Sie würden in eine Gaststätte passen“, sagt Unger. „Und von dort kommen sie auch.“

Die ganze Familie angesteckt

Der 74-Jährige hat den Handwerksbetrieb inzwischen an seinen Sohn Ralph weitergegeben. Dem Fachwissen des Altmeisters ist es zu verdanken, dass das Jugendstil-Oberlicht in der Villa Esche der originalen Farbigkeit wieder nachempfunden werden konnte. Durch das seltene Handwerk – in der DDR gab es nur wenige Bleiglaser, die anerkannte Kunsthandwerker waren – konnte sich die private Glaserei Unger auch in sozialistischen Zeiten behaupten. So erhielt der Handwerksbetrieb vor 21 Jahren vom damaligen Rat der Karl-Marx-Stadt den Auftrag, die Bleiverglasungen im Chemnitzer Rathaus zu restaurieren. Zugleich wurde gefordert, die Fenster im „Ratsstübchen“, einer kleinen Kneipe im Keller, neu zu gestalten.

„Den Herren war es hier zu dunkel, wenn sie aus der Stadtverordnetenversammlung die Treppe hinunter in ihre Gaststätte kamen“, sagt der Handwerker. „Ich habe mich gefragt, ob ich sie für den Privatbedarf kaufen könnte. Dann habe ich aus den 16 Fragmenten drei Bleiglasfelder passend für meine Wohnung gefertigt und mich jeden Tag darüber gefreut.“

Doch wie wertvoll seine Flurschrank- und Bad-Türen wirklich sind, darauf ist der gewiefte Experte erst jetzt durch einen Chemnitzer Schüler gekommen. Der 17-jährige Gymnasiast Benny Waszk hatte sich in einer historischen Arbeit mit dem Wirken des bekannten Dresdner Künstlers Josef Goller beschäftigt. „Meine Klassenlehrerin und meine Kunstlehrerin hatten mich gedrängt, mich am Wilhelm-Weidlich-Wettbewerb zu beteiligen“, sagt er. „Das ist ein Wettbewerb, bei dem ein Frankfurter Verleger alljährlich Preise an Chemnitzer Schüler für die Erforschung der Stadtgeschichte vergibt. Anfangs hatte ich zwar wenig Lust. Aber dann habe ich mich richtig hineingekniet und die ganze Familie angesteckt.“ So nahm die Familie Waszk die Materialien über Bleiglaserei sogar in den Türkei-Urlaub mit, um dort gemeinsam mehr über die Hintergründe und Entstehung der Glasmalerei zu lesen.

Stadtarchiv durchforstet

In Chemnitz durchforstete Benny Waszk das Stadtarchiv. Er fuhr nach Dresden, um dort mit der Retuscheurmeisterin Uta Häse zu sprechen, die sich mit dem Kunstglaser Goller näher beschäftigt hat. Nach ihren Hinweisen besuchte der Schüler verschiedene Gebäude in Chemnitz und Umgebung: das Rathaus Siegmar, die Kirche in Euba, die Johanniskirche und auch das Chemnitzer Rathaus. In der ehemaligen „Ratstrinkstube“, der jetzigen großen Gaststätte „Ratskeller“, befinden sich ein Wandgemälde sowie Wandfliesen, die von Josef Goller stammen könnten. Weiterhin entdeckte Benny, dass sich früher auch im Ratssaal mehrere Bleiglasfenster mit dem Thema „Die neuen Wappen der Innung“ von Goller befanden. Diese Fenster wurden durch den Bombenangriff im Zweiten Weltkrieg vollkommen zerstört. Es existiert aber noch ein Entwurf davon, den der Künstler zur Weihe des neuen Chemnitzer Rathauses im Jahr 1911 selbst drucken ließ.

Für seine Forschungen erhielt Benny Waszk den ersten Preis. Seine Arbeit wurde in einer heimatgeschichtlichen Zeitschrift abgedruckt. Dieser Beitrag fiel Rainer Unger in die Hände. „Es war auffällig: Meine Bleiglas-Türen sehen den Wappen von Goller sehr ähnlich. Nur die Motive sind anders, eben passend für eine Trinkstube“, sagt er. „Die akribische Pinselführung, die Schattierung und die Wischtechnik, das ist tatsächlich typisch für Goller.“ Allerdings sind die Fenster nicht signiert. „Wahrscheinlich wurden sie 1945 zerstört, und dann sind nur die Fragmente neu verbleit worden.“ Er hat inzwischen Stadt und Denkmalschutz informiert. Und er ist auch nicht abgeneigt, die wertvollen Originale an die Stadt zu verkaufen. Aber ein bisschen Wehmut ist trotzdem dabei, denn immerhin gehören die Kunstwerke jetzt noch zum täglichen Leben der Familie Unger. „Ich müsste mir was Neues ausdenken, um dann die leeren Flächen zu füllen“, sagt er. „Aber ich habe noch einige Stücke von meiner Ausstellung in den Städtischen Kunstsammlungen von Karl-Marx-Stadt aus dem Jahr 1988. Die könnten gut in die Türen passen.“